Kategorie: Fotografie | Film

Der große Schwof ist ein tolles Fotobuch. Aber was ist ein Schwof?

Der Bildband Der große Schwof begleitet die gleichnamigen Ausstellungen mit Fotos zu offiziellen und zu den viel spannenderen inoffiziellen Festen und Feiern in den DDR-achtzigern.

Momente mit ironischer Kamera

In Cottbus und in Rostock wird gefeiert: in beiden Städten werden diese achtziger Schnappschüsse mit Ausstellungen gefeiert. Das erinnert mich an den Falco zugeschriebenen Nonsens „Wer sich an die 80er erinnern kann, hat sie nicht erlebt“ wird. Blöder Spruch. Denn die achtziger waren durchaus merkwürdig, brachten sie doch innovativen Wind in unser Leben mit der CD, den ersten handys und macs, Punk, Hitlers Tagebüchern und 99 Luftballons, aber auch mit Bruce Springsteen in der DDR, Gorbi, Montagsdemos und schließlich dem Mauerfall. Nur das Wort „Schwof“ tauchte in den 80ern nicht mehr auf.

So richtig bunt wird’s nur in schwarzweiss

Wenn ich mich an meine ersten DDR-Reisen mit Touristenvisum in den 1970ern erinnere, sehe ich Autobahnen, Landschaften, Innenstädte und Hotels in Schwarzweiß. Bei fast allen der 31 Fotokünstler und -künstlerinnen dominiert das Konzentrat von Schwarzweiß-Bildern. Dementsprechend konzentriert waren auch die Bildmotive. „Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte“, beschreibt die Mitbegründerin der Bildagentur Ostkreuz Sybille Bergemann ihre Arbeit und steuert die Bilderserie „Clärchens Ballhaus“ (Berlin 1976) bei. Private Feiern waren ein Ventil auf dem Schnell-Kochtopf der DDR-Gesellschaft. In Kneipen und Wohnungen war Platz für meist tolerierte Ausgelassenheit, für Freizügigkeit und Frivolität. „Sex und Saufen“ heißt daher eine Bilderserie von Harald Hauswald. Alkohol hilft Ost wie West, um dem Alltag zu entschwinden, sei er sozialistisch oder kapitalistisch plakatiert. Mit heimlichen Augen betrachten wir dabei Menschen beim sehr privat und freizügig sein. Regimekonformer wurde in sozialistisch geordneten Bahnen bei Unterwäsche-Modenschauen, Misswahlen und offiziellem Pärchenstrip im Kreiskulturhaus gefeiert. Unter Anwesenheit sichtbarer und unsichtbarer Tugendwächter. Hauptsache gefeiert.

Wende mit Katerstimmung

Die Fotoauswahl endet kurz vor der Wende, Party-pics zur Maueröffnung finden sich nicht im Buch. Über Nacht waren die Ventile, um gesellschaftlichen Dampf abzulassen – zumindest vorerst – nicht mehr nötig. Auch wenn es in den Jahren nach der Wende für große Teile der fotokünstlerische DDR-Szene ein böses Erwachen mit Katerstimmung gab: in Selbstvermarktung nicht geschult, verschlechterten sich rapide die Arbeitsmöglichkeiten durch die Verlagerung von Magazinen und Verlagen in die alten Bundesländer. Auch der Lehrbetrieb der renommierten Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig litt unter einer chaotischen und überhasteten Westübernahme. Hätte man in der jungen BRD der fünfziger Jahren ähnliche Schnitte gesetzt, hätte die Nachkriegszeit in Ermangelung geeigneter Talente zwanzig Jahre länger gedauert. Immerhin bildeten sich neue Schulen und Fotoagenturen wie Transit und Ostkreuz. Sehr informativ thematisiert Der große Schwof in Interviews und Beiträgen die schwierigen Nachfolgezeit für die Fotografie der DDR. Vielen Ost-Fotografen war nicht mehr zum Feiern zumute.

Blick und Trip nach Osten

Gute Fotobücher (und Ausstellungen) geben uns ungewohnte Einblicke. In diesem Fall gewinnen wir durch Interviews und Begleittexte auch Einblicke in Werk und Leben von DDR-Fotokünstler*innen. Bis dato nicht gerade ein gesamtdeutsches Thema. Und da oft mit ironischer Kamera festgehalten wurde, freue ich mich auf Ausstellungsbesuche in Cottbus und in Rostock: Cottbus im Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, 27. Januar bis 28. April 2024 und in der Kunsthalle Rostock, 9. Juni bis 8. September 2024. Und was bedeutet nun Schwof? Jugendsprache der fünfziger und sechziger Jahre für einen geselligen Abend mit Tanzvergnügen. Ob Rosenmontagsball im Weimarer Café Resi oder Punkkonzert der Band Wutanfall – Hauptsache die Stimmung stimmt.

Der große Schwof – Feiern im Osten, Herausgegeben von Petra Göllnitz und Erik Stephan, 270 S. | € 27,00

(c) 2024
Kurt Pohl

Das große COVID-Suchspiel: wohin führt unsere Reise? Bagdad, Täbris, Isfahan?

Bloß weg hier! Und in Wien um die Welt reisen.

Auf meinem Geburtstagstisch landete ein auf den ersten Blick unspektakuläres Fotobuch mit dem sperrigen Titel Almost. Es passt nicht nur auf jeden schmalen coffeetable, sondern beantwortet abschließend die Frage, was macht ein Reiseschriftsteller, wenn er wegen der COVID-Regeln nicht mehr reisen durfte. Wojciech Czaja suchte die Abenteuer vor der Haustür – auch wenn in diesem Fall vor der Tür nur Wien lauert. Und fand 100 Städte in einer. Auf dem Titelfoto glauben wir uns gerade durch Isfahan zu bewegen, in Wirklichkeit erliegen wir einer Illusion im Wiener Stadtteil Döbling.

Ein Reiseführer für Wien und anderswo

Es zeichnet den Kreativen aus, dass er Objekte, Situationen und Motive entdeckt, für die der Normalverbraucher weder Blick noch Sinn findet. Wojciech Czaja, geboren 1978 in Ruda Slaska im südwestlichen Polen, lebt als Journalist und Buchautor in Wien und reist gerne. Weil ihm als Reisejournalist während der Ausgangssperren die Decke auf den Kopf fiel, flanierte er motorisiert durch Wien auf der Suche nach der weiten Welt: an welchen Orten sah es wenigstens fast (almost) so aus wie in Chicago oder Angkor Wat. Auf den richtigen Bildausschnitt kam es an. Je weiter er durch Wien stromerte, desto mehr von der Welt entdeckte er in Details und fütterte damit seinen Facebook-Account. Follower-überströmt sammelte er likes und es ward eine Ausstellung und ein Buch. New York, Rio und Tokio waren plötzlich ganz nah und ohne Einreise-Quarantäne zu erreichen. Die shownotes informieren über den technischen Support seiner Wiener Weltreise: eine Vespa GTS 125 und ein iPhone 8 mit 64 GB für die Motive, google maps für deren Validierung. Almost hat zwar seinen Ursprung in social media, wirkt aber als Reiseführer in Print noch lebendiger als im Netz.

Was ist eigentlich dessauisch oder irkutskisch an Wien?

Wir sehen eine schnörkellose Treppe mit einem reduzierten Handlauf, quadratische, nüchterne Milchglasscheiben im Hintergrund und lesen „Dessau“. Klar, so stellen wir uns ein Bauhaus-Museum vor. Neben den speziellen Perspektiven fängt Wojciech Czaja Stimmungen ein und schon assoziert unser Gehirn. . . guter Zaubertrick. Sein Buch-Buch zeigt zweierlei: wie immer im Leben, kommt es auf die Perspektive an. Und – kulturelle Mitbringsel aus aller Welt machen unsere Städte lebendiger.

Jetzt bloß keine Covid-Bücher! Außer diesem hier.

Das Buch ist äusserst unterhaltsam und taugt zu einer charmanten Erinnerung an unsere Zeit der scharf begrenzten Radien. Czaja hatte nicht nur eine beneidenswerte Idee, er animiert zum flanieren und entdecken, zu Fuß oder auf zwei Rädern. Wenn uns die Sehnsucht packt, zuhause in Winterthur, Augsburg, Bratislava oder sonst wo – machen wir Schnitzeljagden durch ferne Städte. Wir werden schon was finden. Almost everywhere. Vielleicht sind wir ja zuhause auch nur almost zuhause. Bleibt die quälende Frage: wieso fällt mir so etwas nicht ein? Habe zwar nur ein Fahrrad, aber immerhin ein iPhone X.

Wojciech Czaja: Almost – 100 Städte in Wien,  223 Seiten, Edition Korrespondenzen, € 20 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.

(c) für alle Fotos Wojciech Czaja

Drei Studenten machen eine Fotosafari durch ein fremdes Land – Deutschland.

Dieser Bildband ist ein ideales coffeetable book: Fotos auf der Spur der deutschen Seele. Statt Heiter bis wolkig könnte er auch „brüllend komisch bis schockierend“ heißen.

Der Deutsche fügt sich gern

Drei Studenten der Fachrichtung Dokumentarfotografie der Hochschule Hannover machen sich zwischen 2016 und 2018 auf den Weg in ein fremdes, vertrautes Land. Sie sind auf der Suche nach dem  „typisch Deutschen“.  Jetzt gibt es die gemeinsame Abschlussarbeit von David Hansen, Sven Stolzenwald und Christian Werner als Buch. Eine Sammlung entlarvend komischer und melancholischer Fotos.

Ihre Fahrten führten sie bevorzugt in die Provinz,  vom Bayerischen Wald bis an die Ostsee, von  Duisburg-Ruhrort bis Boizenburg an der Elbe. Sie stiegen immer dort aus, wo ihnen Deutschland nicht nur am deutschesten vors Objektiv kam, sondern auch am provinziellsten.  Je weiter das Land, denkt man, desto enger wird es in den Köpfen. Wir diskutieren über Leitkultur, Heimat und sozio-kulturelle Vielfalt. Aber was ist ein typischer Deutscher? Pünktlich, Vereinsmeier, humorlos, erfolgreicher Rumpelfussballer?

Es ist vor allem ein Buch über das Provinzielle, unabhängig von Stadt oder Land, es könnte also überall auf der Welt spielen. OK, wo sonst gibt‘s Teller voller Mettbrötchen in wuchtigen Wohnzimmern? Provinziell heißt dulden, sich fügen und dem Schwarm vertrauen. Mit ihren Bildern über Schützen-, Feuerwehr- und Heimatfeste frieren die drei Fotografen die Zeit ein. Ebenso mit den tristen Bausünden, eintönigen Gärten und den kirchlich gesegneten Wohnmobilen. Da bleibt wenig Raub für Dynamik und Veränderungen. Viele Motive sind meist unfreiwillig komisch, andere peinlich bis depressiv. Stereotype werden nicht vermieden, ebenso wie Schnappschüsse, die eigentlich im Familienalbum unter Verschluss bleiben sollten.

Heiter bis wolkig bietet viel Gesprächsstoff. Ideal für deinen coffee table.

Wer das Buch durchblättert hat sofort Gesprächsstoff: „das könnte mein Onkel sein“, „ja, so sah es bei uns zuhause aus“, „da möcht‘ ich nicht begraben liegen“. . . Unterhaltsam informativ sind auch viele Bildunterschriften wie „In Deutschland gibt es rund 20 Millionen Verkehrsschilder, alle 28 Meter eines.“ Na gut,  wobei Wortspiele wie „Herrenloses Damenfahrrad“  ähnlich banal wirken wie manche Fotos. Fotos wie aus einen namenlosen Familienalbum vom Flohmarkt.

Den Fotos voran gestellt ist ein Text des Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen, seinerseits mit vielen treffenden Textbildern. Goosen fasst das deutsche Dilemma in einem einmaligen Satz zusammen „Wer jemals mit der Regionalbahn von Koblenz nach Gießen gefahren ist, der weiß, dass Romane über Freiheit und Weite woanders geschrieben werden.“ Da klingt der alte Jörg Fauser durch mit seinem genialen Text „Kein schöner Land“ Ende der siebziger Jahre. Goosen zeigt aber auch etwas, was in den Bildern kaum vorkommt: die Wahl von Schröder und Fischer Ende der Neunziger hat „… ein bisschen Luft in die stickige deutsche Stube gelassen.“ Und, das strapazierte Sommermärchen brachte nicht nur grüne Trikots für die Nationalmannschaft (statt preussisch s/w), sondern auch eine farbigere Spielweise. Hoffnungsschimmer für ein ratloses Deutschland-Gefühl.

Halte Heiter bis wolkig in Greif- und Sichtnähe.

Heiter bis wolkig ist nicht nur ein amüsantes Reisetagebuch quer durch die Republik, sondern spiegelt auch Teile unserer Herkunft. Das Buch bietet viel Gesprächsstoff über verblühte Landschaften, die uns – nicht immer freiwillig – am Herzen liegen. Also gehört das Buch an einen zentralen Platz in der Wohnung. Zum Blättern, lesen und drüber reden. Es hat ein handliches Format, ist nicht zu dick und findet überall seinen Platz. Ziemlich empfehlenswert mit 4 von 5 möglichen Kaffeetischchen.

Heiter bis wolkig – Eine Deutschlandreise, Fotografien von David Hansen, Sven Stolzenwald und Christian Werner, Text von Frank Goosen, 216 S., 144 Abb. | € 20

[boostyourcoffeetable: Wir müssen nicht alle Bücher lesen. Oft genügt es, dass wir sie besitzen, darüber reden und im Blick haben. Nice to have, nice to see.]

PS: eine Ausstellung über Heiter bis wolkig ist in Hamburg geplant. Vielleicht kann dort die Frage geklärt werden, warum auf dem Mettbrötchen-Foto im Milchkännchen bereits Kaffee schwimmt?