Kategorie: Fotografie | Film

Dark Tourism hat nichts mit Thomas Cook zu tun. Ein Buch über verlassene Orte.

Als neue Reise- und Erlebnisform abseits der gängigen Urlaubskataloge hat sich Dark Tourism längst etabliert: Die Atomruine Tschernobyl mit der verlassenen Trabantenstadt  Pripyat samt Vergnügungspark für die Belegschaft gehört zu den hot spots. Die harte Version von Dark Tourism führt meist an Orte mit düsterer Vergangenheit,  mit Katastrophen und Tod. Eine phantasievollere und leichtere Variante bietet der Grazer Fotograf Thomas Windisch in seinem Bildband Wer hat hier gelebt?

Aufgegebene Orte

Auf seinem Facebook-Foto wirkt Windisch wie ein hochgerüsteter Jäger auf der Pirsch. Kein Wunder also, dass er sich bei der Suche nach seinen Motiven in meiner Phantasie durch eingewachsene Gärten oder dichte Drahtgeflechte kämpfen muss. Windisch bewegt sich in einer Welt ohne Menschen: Zurückgelassene Villen, aufgegebene Hotels, stillgelegte Krankenhäuser und Gefängnisse. Kein Bewohner, kein Gast, kein Insasse und kein Arbeiter in einer aufgelassenen Fabrik ist mehr zu sehen. Was mag ihnen passiert sein, dass sie nicht mehr auf der Bildfläche erschienen.

Bei der Buchpräsentation in Wien verriet mir Thomas Windisch, dass einige Orte nicht mehr im Originalzustand sind: Eindringlinge plündern das  Nichts oder forcieren die Zerstörung, Künstler nutzen die locations für Performances und Installationen. Diese Besucher  hinterlassen neue Spuren und so verändern sich einige Orte von Besuch zu Besuch. Manche dieser lost places werden unter Fotografen „gehandelt“, auch sie inszenieren und verändern gelegentlich die Ursprünglichkeit  ihrer Motive. Wer hat hier gelebt? ist kein expliziter Reiseführer mit Ortsangaben, das gewöhnliche Reisevolk muss draußen bleiben  – zum Schutz der Schauplätze bleiben sie geheim.

Das macht der Freude und Faszination an diesem Buch keinen Abbruch. Die Fotos strahlen mehr Stille und Gelassenheit als Dramatik aus. Ein bisschen Vergänglichkeit  passt  in die dunkle Jahreszeit. Es muss ja Gründe geben, warum an diesen Orten gelebt und gearbeitet wurde. Machen wir unsere eigene Geschichten, warum diese Plätze zurück gelassen wurden und was mit den Bewohnern geschah, bevor sich die Natur alles wieder zurückholt. Also ein Bildband für Betrachter, für die Geschichten noch nicht auserzählt sind.

Thomas Windisch (Fotos), Ilija Trojanow, Thomas Macho (Texte): Wer hat hier gelebt? Augenreisen zu verlassenen Orten,  216 S., € 45.– | bei deinem Lieblingsbuchhändler oder hier.

Zwei Nachträge

Wer noch mehr verwunschene Orte entdecken will, dem empfehle ich auch noch folgendes Buch:

Kenk van Rensbergen No Man’s Land – Zwischen Utopie und Wirklichkeit verlassener Orte, 192 Seiten | € 50 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.

Meine eigene Erfahrung mit Dark Tourism:

Südlich von Dubrovnik entdeckten wir vor einigen Jahren zufällig den verlassenen Badeort Kupari. Die Hotels wurden im Jugoslawien-Krieg zerbombt und ausgeplündert, ebenso wie die Fabrik, in der die einzigartigen Dachziegel für Dubrovnik gebrannt wurden. Die idyllische Bucht war der parteipolitischen Elite vorbehalten. Angeblich soll eine Wiener Investorengruppe den wunderschön gelegenen Badeort revitalisieren.

Macht Volksmusik wirklich glücklich?

[boostyourcoffeetable: Wir müssen nicht alle Bücher lesen. Oft genügt es, dass wir sie haben, darüber reden und zeigen. Von der Decke hängend, in einer geöffneten Schublade, ganzjährig auf der Terrasse oder eben auf dem coffee table.]

Volksmusik von Lois Hechenblaikner: , 152 S., 120 Fotos, Steidl Verlag | € 38.-

Was du über das Buch Volksmusik wissen solltest.

Seit Jahren beobachtet der Tiroler Lois Hechenblaikner mit seiner Kamera, wie Tourismus und mehr noch die Touristen seine Heimat verändern. Zu dieser Feldforschung gehört auch der Besuch von volkstümlichen Konzerten und Hansi Hinterseer-Wallfahrten. Dort porträtiert er mit professionellem Respekt die Besucher, vorrangig aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie alle Fans suchen sie Halt in der Gemeinschaft Gleichgesinnter und hoffen, dem Dilemma des Lebens außerhalb der seichten Liedzeilen und Harmonien zu entfliehen. Den Einheimischen bleibt da nur die Flucht, sofern sie nicht an den Events mitverdienen.

Warum passt Volksmusik auf deinen coffee table?

Um sie zu schonen, hält Hechenblaikner größtmögliche Distanz zu den Fotografierten. Dennoch sind viele der volkstümlichen Fans einfach zu crazy: in ihren Fantasy- und Pseudo-Trachten kostümiert entbehren sie nicht ungewollter Komik. In ihren Gesichtern ist abzulesen, wie schwierig es ist, das Leben so lieblich wie in Gabaliers Schlager Hulapalu zu gestalten. Aber die Fotos bieten uns auch Trost: das Dilemma haben immer die anderen.

Der beste Platz für Volksmusik:

Den mutig schrägen Fotoband im Eingangsbereich platzieren. Du kommst nach Hause und bist sofort in Feierabendlaune, eintreffende Gäste führt er gleich mal aufs Glatteis. Meine Lieblinge sind die Seiten 55 und 81. Volksmusik verdient vier von fünf coffee tables.

Alle Fotos aus Lois Hechenblaikner Volksmusik verlegt bei Steidl.

Leben „to go“: die besten Fotos liegen auf der Straße.

Bis 16.Februar sind die besten Straßenfotografien im Kunst Haus Wien versammelt. Keine Zeit für die Ausstellung? Nicht weiter schlimm!  Das Buch zur Ausstellung Street.Life.Photography bleibt und zeigt neben Stars des Genres wie Martin Parr, Robert Frank, Lee Friedlander und Diane Arbus auch jüngere Fachkräfte wie der Deutsche Siegfried Hansen und Maciej Dakowicz, der v.a. in Asien arbeitet.

Straßenfotografie ist das Road Movie unter den Fotografie-Genres und hat ihren besonderen Reiz: kein Studio, knappes Budget, kein oder wenig künstliches Licht, keine Zeit für langwierige Inszenierung, stattdessen Konzentration auf den Augenblick und auf Zufälle. Das Studio ist der öffentliche Raum. Oft entstehen darin subjektive Schnellschüsse von Alltagsszenen und eindrucksvolle Porträts.  Das Buch mit knapp 200 schwarz-weiss- und Farbfotos aus den letzten 70 Jahren gliedert die Fotografien in Sektionen wie Public Transport, Street Life, Urban Space, Anonymity und andere.  Sie zeigen Strassenszenen, die all unsere  Lebenslagen abbilden:  Eitelkeit, Bewegung, Essen, Sex, Stillstand, Sport und Spiel, Warten, Architektur, Politik, Frust, Einsamkeit und auch Langeweile. Auf dieser Bühne sind wir gleichzeitig Zuschauer und Akteure, oft unfreiwillig, manchmal voyeuristisch.

(c) Siegfried Hansen

Einiges im Buch erinnert an Szenen, die wir so oder ähnlich selbst schon erlebt, aber nicht wahrgenommen haben. Zufälle, die wie eine Inszenierung wirken. Es ist nicht ganz billig, dafür schön gemacht und mit einer umfassenden Auswahl. Darin schmökern deine Gäste bis der Risotto fertig ist. Lass dir ruhig Zeit mit der Zubereitung. Den richtigen sound dazu liefert immer noch Randy Crawford.

Street. Life. Photography,  € 49,90 | [Anzeige] in deiner Buchhandlung oder bei oder hier.