Wochenlang musste der schwergewichtige Katalog auf seine Ausstellung warten. THE BEGINNING zeigt auf über 600 Seiten die Entwicklung der österreichischen Kunst von 1945 bis 1980: den Wiener Phantastischen Realismus, die Wiener Aktionisten, Pop Art made in Austria und gesellschaftskritischen Realismus. Eine „signature exhibition“ zur Eröffnung eines neuen Museums.
Eine Sammlung sucht ein Zuhause
Die Vorgeschichte zum Museum: Die österreichischen Baumarkt-Könige Essl (bauMax) verloren 2014 per Insolvenz nicht nur ihr Bastler-Imperium, sondern in der Folge auch eine kompetente Sammlung moderner Kunst. Rettend sprang der größte Bauunternehmer Österreichs, Hans Peter Haselsteiner (STRABAG), ein. Wie in Schnitzlers Der Reigen bewegte sich die Sammlung Essl in Österreich vorwärts (nachdem einige internationale Preziosen versteigert wurden) und in neues Zuhause. Haselsteiner ließ flux das Wiener Künstlerhaus renovieren und „schenkte“ damit der renommierten Graphiksammlung ALBERTINA einen zweiten Standort mit dem Attribut modern. Mit der internationalen Betonung auf der ersten Silbe, wie beim touristischen role model, der Londoner Tate Modern.
Hundertwasser tanzte auf allen Kunsthochzeiten
Kurzer persönlicher Einschub: Die Wahrnehmung österreichischer Kunst in Deutschland Mitte der siebziger bis in die achtziger Jahre war relativ einfach strukturiert. Durch umfangreiche Vermarktung dominierte Friedensreich Hundertwasser: seinen aufwendig und hochprofessionell gedruckten Postern und den architektonischen Aufhübschungen im öffentlichen Raum konnte man ebenso wenig entrinnen, wie seinen Auftritten im Hauptabendprogramm am Samstag. Die phantastischen Realisten Ernst und Hausner erreichten das Spiegel-Publikum, Helnwein die Stern-Leser, Nitsch die Kunstmagazine wie art, und der unsägliche Otto Muehl tauchte mit nackten Körperteilen als Fotoschnipsel in hektographierten antiautoritären Underground-Blättern auf (den Begriff „Hektografie“ erkläre ich gerne auf Anfrage).
Es ist die Zielsetzung der Kuratoren, die Aufarbeitung und den Neubeginn nach der nationalsozialistischen Diktatur zu zeigen. Wie schwer sich die österreichische Kunstszene noch 1949 mit Aufarbeitung tat, zeigt folgende Episode: Der im Katalog vertretene Arnulf Rainer verließ schon drei Tage nach Aufnahme an der Akademie der bildenden Künste diese wieder. Seine Arbeiten wurden als „entartet“ klassifiziert. Zwar bildete sich schon 1946/47 der Art Club als Plattform für junge Künstler, aber der Nationalsozialismus warf noch lange Schatten auf den Kulturbetrieb durch übrig gebliebenes Personal an Hochschulen und in Medien. Die Folge waren Zensur, Verspottung und Behinderung der jungen, das alte ignorierenden Gegenbewegung.
Neustart mit konkurrierenden Künstlergruppen
Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder stellt in der gut recherchierten Einleitung klar, dass der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg von mehreren Avantgarden gestaltet wurde: „Nur als Summe der einander mit großer Leidenschaft oft feindlich gegenüberstehenden Künstlergruppen erhält man ein ganzes Bild dessen, was in seiner Gesamtheit zum Kraftwerk für die Kunst des 21. Jahrhunderts werden sollte.“ Katalog und Ausstellung geben allen Gruppen, die sich vorranging aus ihren Spielstätten in der Wiener Innenstadt, dem Art Club und der Galerie nächst St. Stephan, bildeten, ausführlichen Raum. International am schnellsten etablierte sich die Gruppe „Wiener Schule des Phantastischen Realismus“ mit Protagonisten wie Friedensreich Hundertwasser und Ernst Fuchs. Weitere Gruppen bildeten die feministische Avantgarde um Valie Export, sowie die Wiener Aktionisten einerseits um Hermann Nitsch, andererseits die Kommune um Otto Muehl. Dem Regelbrecher Muehl wird – nicht mehr zeitgemäß – viel Raum in Ausstellung und Katalog gegeben.
Die Mühe mit Muehl
Seine Rolle innerhalb seiner Kunstkommune war mehr als zweifelhaft und wurde strafrechtlich belangt. Mag durch das Freud’sche Erbe die Toleranzschwelle für Grenzüberschreitungen in der österreichischen Kunst niedriger als woanders sein – wir leben zu Recht in achtsamen Zeiten. Nicht nur das Werk zählt, sondern auch das wirkliche Wirken. Zwar beschäftigt sich auch der österreichische Kulturphilosoph Konrad Paul Liessmann in seinem Katalogbeitrag Blasphemie und Kitsch damit. Aber ratlos lässt er den Leser mit folgendem statement über den verurteilten Otto Muehl zurück: „Der Verdacht, dass Muehl die minderjährigen Modelle missbraucht habe, degradiert die Kunstwerke zu bloßen Dokumenten eines kriminellen und moralisch verwerflichen Aktes“. Drückt das Wort „Degradierung“ Unzufriedenheit mit dem Lauf der Diskussion aus? Ich werde daraus nicht schlau.
Die umfangreichen Textbeiträge im Katalog bieten viel Hintergrund: den Künstler*Innen Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser, der kraftvollen Maria Lassnig, Valie Export und dem Objektkünstler Franz West sind eigene Kapitel gewidmet. Ebenso wie den Themen Phantastischer Realismus und Aktionismus. Der Beitrag Gewalt und Traumata beleuchtet die Werke der neuen Realisten wie z.B. Gottfried Helnwein. In allen Beiträgen blitzt immer wieder auf, dass der Reiz österreichischer Kunst (und Kultur im allgemeinen) auch in Grenzüberschreitungen inklusive feel bad-art liegt. Ebenso gehört das phantasiereiche und oft mühelose Wechseln zwischen den Genres zu den österreichischen Besonderheiten. Kurz vor der Seite 600 ist noch eine überraschende Chronologie versteckt, die wichtige künstlerische Meilensteine im zeitgeschichtlichen Kontext verortet. Nicht übersehen!
Überraschender Pop Artist
Der Besuch einer Ausstellung lebt von Überraschungen und Entdeckungen: für mich ist es der interessanteste Pop Artist Österreichs, Robert Klemmer. Leider war ihm nur eine kurze Schaffenszeit gegönnt, denn der 1938 in Niederösterreich geborene, gelernte Fernmeldemonteur und Autodidakt verstarb bereits 1971. In der Regel malte Klemmer sich selbst und sein engstes Umfeld. Ihm ist das unverwechselbare Titelmotiv für Ausstellung und Katalog zu verdanken. Eine weitere Entdeckung ist für mich Eduard Angeli (geb. 1942) mit seinem geheimnisvollen Realismus aus den 1970er Jahren. Er verwendete Postkarten mit kolonialen Motiven, die er während seiner Zeit in Istanbul (1967 bis 1971) auf Flohmärkten aufstöberte. Und es gibt im Katalog ein Wiedersehen mit Max Peintner, dessen dystopisches Bild „Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur“ Vorlage für die Kunstaktion im Klagenfurter Fußballstadion im Herbst letzten Jahres war. Ich berichtete. Schon 1970 erkannte Peintner das Schutzbedürfnis unserer Natur.
Katalog und Ausstellung verdienen Besucherandrang
Die Ausstellung scheint zu einem Publikumserfolg zu werden. Und aus einem Ausstellungskatalog ist ein Standardwerk über die Entwicklung der österreichischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg geworden. Interessant, voller Informationen über die taktgebenden Strömungen und abwechslungsreich. Für die Mitnahme in die Ausstellung ist er mit über 3 Kilogramm etwas schwer. Aber wir können uns mit ihm auf einen lohnenden Trip ins sommerliche und herbstliche Wien bis zum 8. November vorbereiten. Immer wieder neue Seiten entdecken – das funktioniert auch zuhause sehr gut. Der Katalog gehört gesehen.
Klaus Albrecht Schröder (Hrsg.), THE BEGINNING, 608 Seiten, Hirmer Verlag, € 55 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.