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slow lane 02|23: War das ein toller Lese-Sommer! | Winter-Preview | Erstausgaben bei booklooker

Rückblick: Es gibt kaum Schöneres als sich am Meer, an einem See oder auf einer Gebirgswiese durch einen Stapel Bücher und Zeitschriften zu schmökern. Leider wird gerade die Beschaffung von Magazinen und Zeitschriften immer schwieriger:  Gruner & Jahr hat seine special interest Titel abgeholzt, und vor allem trifft es die unabhängigen little mags. Das Designmagazin form und die Naturzeitschrift Walden sind eingestellt, der Weekender ist kaum noch im Handel zu finden, mare und Monocle liegen wohl einigermaßen stabil (alle drei Titel habe ich zur Sicherheit abonniert). Das Kunstmagazin Wetter habe ich erst in der Buchhandlung Walter König entdeckt, ein wirklich tolles Magazin! Droht der Printbereich von einer digitalen Diktatur geschluckt zu werden?

Eva Menasse setzt sich in ihrem neuen Buch „Alles und nichts sagen“ mit den Untiefen digitaler Kommunikation auseinander, insbesondere mit den vorurteilsbegeisterten Social Media-Horden. Etwas wehleidig. Ist digital der böse Bruder? Aber lassen sich analoge und digitale Medien überhaupt gegenüberstellen? Es leben vielmehr die jeweiligen Eigen-, Fein- und Besonderheiten!

Ich jedenfalls will nicht alles augenzehrend auf kleinen screens lesen müssen. Und das auch noch extrem verkürzt und zugespitzt. Ich will mehr als nur Content: zu meinem Lesevergnügen gehören Haptik und Optik von Print. Fotostrecken, abwechslungsreiche Typo, angenehme, überraschende Papiere, sinnvoll und gleichzeitig sinnlich. Liebe Leser*innen, nutzt an- und aufregende Printprodukte – es kommt nichts Besseres nach. Die Geschichte von Print ist noch nicht auserzählt, Bücher, Magazine, Kalender und Notizen liefern immer neue, spannende Stories.

Jede Menge tolle Herbst/Winter-Bücher

Nachdem ich mich durch die Herbst-/Winterprogramme meiner bevorzugten coffeetabe-Verlage gewischt habe, liegen nun die ersten gedruckten Exemplare griffbereit. Genügend Beschäftigung für lange Winterabende. Oben auf meinem Stapel liegen ein Fotoband über die Feierkultur in der DDR und eine Graphic Novel über koloniale Brutalität und warten auf ihre Posts in den nächsten Wochen.

Der große Schwof begleitet die gleichnamige Ausstellung zu offiziellen und zu den viel spannenderen inoffiziellen Festen und Feiern in den DDR-achtzigern. Fotos von Maifeiern und Sportfesten, Misswahlen und Modeschauen, vor allem aber von überschäumenden und freigeistigen Privat- und Künstlerfesten. Meist mit ironischer Kamera festgehalten. – Trotz des ernsten Themas freue ich mich auch auf die exzellente und informative Rampokan – Gesamtausgabe über das Ende der langen Kolonialgeschichte der Niederlande in Indonesien. Geschrieben und gezeichnet von Peter van Dongen.

Der Winter wird bunt

Mein Fotostudio für booklooker Über die Plattform booklooker.de verkaufe ich tolle Erstausgaben aus den literarischen Epochen der letzten hundert Jahre. Wichtig sind mir aussagekräftige Fotos über Originaleinband und Umschlag, über besondere Typo, Signaturen und Abbildungen. Und vor allem über den Zustand der Ausgabe. Damit die Katze nicht im Sack gekauft wird. Mein Fotostudio ist einfach strukturiert: ein Holzstuhl, als Hintergrund ein Pappkarton mit Befestigungsklammer und eine Dose Tomaten als Buchstütze. Die Fotos schieße ich je nach Lust und Laune mit einer Leica Delux, dem iPhone X oder 15 pro. Und meist ein bisschen schief. My signature? Besucht mich doch mal bei https://www.booklooker.de/trooboox und mach eine Tour durch alle wichtigen Strömungen der Gegenwartsliteratur: Expressionismus, Avantgarde, Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik, Exilliteratur, Nachkriegsliteratur, die 68er, Beat, Punk & Pop und Postmoderne.

(c) 2023 Kurt Pohl

Manga-Kunst: alles außer niedlich

Wer die Wiener Albertina nur als Dürers Hasenstall aufsucht, muss sich längst neu justieren: in der Albertina ist noch bis 29. Mai (!!) der geniale Pop Artist Alex Katz zu sehen, der Ableger modern am Karlsplatz ist mit Zeichnungen von Yoshitomo Nara bis Oktober ein Manga-Mekka.

Alles ausser niedlich

Yoshitomo Nara ist einer wichtigsten Künstler Japans und zeigt in der ALBERTINA modern unzählige Punk Mangas. Seine Zeichnungen wirken wie einfache Punkriffs, zeigen aber mehr als wir sehen. Sie zeigen vor allem Schieflagen in Gesellschaft, Politik, Umwelt und in unseren Herzen. Naras Protagonistin ist Angry Girl und auf den ersten Blick sieht es uns meist freundlich nett ins Gesicht. In Wahrheit wirkt sie, als würde sie einem permanent das Bein stellen und zeigt sich wild entschlossen, zwischen sich und Betrachter*in eben keine Niedlichkeit entstehen zu lassen.

Nara zeichnet sich raus aus der Einsamkeit

Yoshitomo Naras Biografie hilft bei der Entschlüsselung seiner meist spontan gefertigten Zeichnungen und Bilder: aufgewachsen im ländlichen Norden Japans, ein Schlüsselkind, da Eltern und ältere Brüder nur wenig Zeit für ihn haben. Das Alleinsein teilt er sich mit einer zugelaufenen Katze und dem Radiogerät, das für Nara mit amerikanischer Rock- und Countrymusik sein Fenster zur Welt wird. Er versteht zwar die Texte und Plattencover nicht, aber die Songs stacheln seine Fantasie an. Musik wird zum wichtigsten Treiber in seinem Leben – Punkrock wird zu seinem Befreier. Das, was er – oft überlaut – hört,  fliesst in Zitaten ungebremst in seine künstlerische Arbeit ein. Mit dem Angry Girl hat er sich vielleicht das Geschwister geschaffen, das er in seiner Kindheit vermisst hat. Als als beste(n) Freund*in, Spiegelbild und Sprachrohr, um seiner Gedankenwelt freien Lauf zulassen. Gut möglich. Zum Punkfan wurde er während langer Studienjahre in Düsseldorf, u.a. bei A.R.Penk. Dass die Stadt eine der größten japanischen Communities beheimatet, hat ihn wohl weniger geprägt.

Forever young and lonesome?

„All my little words“ ist der Titel der Ausstellung. Nara macht wenig Worte, aber die Gefühle müssen raus könnte ein Motto des introvertiert wirkenden Künstlers sein. Da muss schnell Zeichenmaterial her – seien es Briefumschläge, Poster, Notizblätter, Kartonfetzen und andere Druckstücke unseres Alltags. Trotz des weltweiten Erfolgs seiner Arbeiten ist Nara ein sehr zurückhaltender Mensch. Da ist es eine nette Idee, in der Ausstellung eine kleine Hütte als Installation für eine Zeichenstube zu präsentieren. Mit allerlei Schnickschnack wie Spielzeugen, Figuren, Landkarten und andere Sammelstücke, die Nara wichtig sind. Dieser „Drawing Room“ führt den 64jährigen unweigerlich in seine einsame Kindheit zurück. Eine kreative Puppenstube, aus der Nara seine ungeschminkten und rotzigen Botschaften in die Welt für eine bessere schickt. Viele dieser Werke sind Demo-Tafel-tauglich und werden gegebenenfalls auf seiner Webseite bereitgestellt.

Die beiden Albertinas sind zu Wien-Hotspots für Gegenwartskunst geworden. Für Besucher und Verpasser gibt es einen abwechslungsreichen von Kuratorin Elsy Lahner zusammengestellten Katalog. Ein Bilderbuch des sich „nichts gefallen lassen“.

240 S., € 36,90 | hier zu haben.

Wichtiger Hinweis: die Originale meiner Ausstellungs-Impressionen unterliegen dem Copyright von Yoshimoto Nara!

(c) 2023 Kurt Pohl