Kategorie: Kunst | Kultur

Manga-Kunst: alles außer niedlich

Wer die Wiener Albertina nur als Dürers Hasenstall aufsucht, muss sich längst neu justieren: in der Albertina ist noch bis 29. Mai (!!) der geniale Pop Artist Alex Katz zu sehen, der Ableger modern am Karlsplatz ist mit Zeichnungen von Yoshitomo Nara bis Oktober ein Manga-Mekka.

Alles ausser niedlich

Yoshitomo Nara ist einer wichtigsten Künstler Japans und zeigt in der ALBERTINA modern unzählige Punk Mangas. Seine Zeichnungen wirken wie einfache Punkriffs, zeigen aber mehr als wir sehen. Sie zeigen vor allem Schieflagen in Gesellschaft, Politik, Umwelt und in unseren Herzen. Naras Protagonistin ist Angry Girl und auf den ersten Blick sieht es uns meist freundlich nett ins Gesicht. In Wahrheit wirkt sie, als würde sie einem permanent das Bein stellen und zeigt sich wild entschlossen, zwischen sich und Betrachter*in eben keine Niedlichkeit entstehen zu lassen.

Nara zeichnet sich raus aus der Einsamkeit

Yoshitomo Naras Biografie hilft bei der Entschlüsselung seiner meist spontan gefertigten Zeichnungen und Bilder: aufgewachsen im ländlichen Norden Japans, ein Schlüsselkind, da Eltern und ältere Brüder nur wenig Zeit für ihn haben. Das Alleinsein teilt er sich mit einer zugelaufenen Katze und dem Radiogerät, das für Nara mit amerikanischer Rock- und Countrymusik sein Fenster zur Welt wird. Er versteht zwar die Texte und Plattencover nicht, aber die Songs stacheln seine Fantasie an. Musik wird zum wichtigsten Treiber in seinem Leben – Punkrock wird zu seinem Befreier. Das, was er – oft überlaut – hört,  fliesst in Zitaten ungebremst in seine künstlerische Arbeit ein. Mit dem Angry Girl hat er sich vielleicht das Geschwister geschaffen, das er in seiner Kindheit vermisst hat. Als als beste(n) Freund*in, Spiegelbild und Sprachrohr, um seiner Gedankenwelt freien Lauf zulassen. Gut möglich. Zum Punkfan wurde er während langer Studienjahre in Düsseldorf, u.a. bei A.R.Penk. Dass die Stadt eine der größten japanischen Communities beheimatet, hat ihn wohl weniger geprägt.

Forever young and lonesome?

„All my little words“ ist der Titel der Ausstellung. Nara macht wenig Worte, aber die Gefühle müssen raus könnte ein Motto des introvertiert wirkenden Künstlers sein. Da muss schnell Zeichenmaterial her – seien es Briefumschläge, Poster, Notizblätter, Kartonfetzen und andere Druckstücke unseres Alltags. Trotz des weltweiten Erfolgs seiner Arbeiten ist Nara ein sehr zurückhaltender Mensch. Da ist es eine nette Idee, in der Ausstellung eine kleine Hütte als Installation für eine Zeichenstube zu präsentieren. Mit allerlei Schnickschnack wie Spielzeugen, Figuren, Landkarten und andere Sammelstücke, die Nara wichtig sind. Dieser „Drawing Room“ führt den 64jährigen unweigerlich in seine einsame Kindheit zurück. Eine kreative Puppenstube, aus der Nara seine ungeschminkten und rotzigen Botschaften in die Welt für eine bessere schickt. Viele dieser Werke sind Demo-Tafel-tauglich und werden gegebenenfalls auf seiner Webseite bereitgestellt.

Die beiden Albertinas sind zu Wien-Hotspots für Gegenwartskunst geworden. Für Besucher und Verpasser gibt es einen abwechslungsreichen von Kuratorin Elsy Lahner zusammengestellten Katalog. Ein Bilderbuch des sich „nichts gefallen lassen“.

240 S., € 36,90 | hier zu haben.

Wichtiger Hinweis: die Originale meiner Ausstellungs-Impressionen unterliegen dem Copyright von Yoshimoto Nara!

(c) 2023 Kurt Pohl

Bis 8. August in der Wiener Albertina:True Lies treffen echtes Leben.

Xenia Hausner beweist: So geht Kunstbuch! | Der populärsten Malerin Österreichs ist eine der wichtigsten Ausstellungen 2021 gewidmet. Vorab lag der beeindruckende Katalog True Lies vor – ein umfangreich bebildertes Arbeitsverzeichnis mit der Unterstützung prominenter Literat*innen. Und einem aufregenden Layout, das uns die Faszination am gedruckten Buch zurückholt. Passend zur Dynamik ihrer Malerei fliegen die Bilder durch die Seiten und tragen uns von einer Short Story zur nächsten. Bis am Ende der Seiten ein wenig Wehmut auf uns wartet. Jedenfalls denkt nach diesem Prachtband bei True Lies keiner mehr an Schwarzeneggers Agenten-Posse aus den Neunzigern.

Rote Wagen als Markenzeichen?

Vorweg: ich schreibe über das Buch, nicht über Hausners Werke. Ihre Bilder betrachte ich mit den Augen des interessierten Laien, mir gefällt ihre Catchiness und mir fallen drei Aspekte auf. Zuerst, dass sie mit kräftiger Farbgebung und Kontur arbeitet. Fast alle Menschen haben gerötete Wangen oder Gesichter, die Augen und Blicke sind wie fotografisch eingefroren. Als gäbe es beim Malen eine Pausentaste. Zum zweiten: viele Bilder wirken wie Szenenfotos aus Film und Theater. Sie malt short-short Stories, die ganze Romane oder Dramen erzählen. Ihre sorgfältig gestalteten Settings werden im Buch ausführlich thematisiert. Ihre Bilder changieren zwischen real und inszeniert, zwischen true und lies. Xenia Hausner bewegt sich – dritter Aspekt – in einer fast ausschließlich weiblichen Welt, sowohl mit ihrem Perspektiven, als auch mit den Modellen.

Xenia Hausners künstlerische Laufbahn begann in den 1970er Jahren mit dem Studium und der Arbeit als Ausstatterin von internationalen Theater-, Opern- und Filmproduktionen. Erst in den 90er Jahren widmete sie sich der Malerei. Vielleicht wollte sie sich (meine Vermutung) gar nicht erst in den Schatten ihres berühmten Vaters Rudolf Hausner (Mitglied der Wiener Schule der Phantastischen Realisten) begeben. Und jetzt steht sie selbst im Ranking ganz weit oben.

Zu Schade fürs Buchregal – lieber immer wieder in die Hand nehmen

Sofort fällt die Großzügigkeit des Buchs ins Auge bzw. in die Hände, denn es zeigt auch haptische Präsenz. Ausladendes Format, ausreichend Platz für die flächigen Tableaus. Dazu stabiles Papier mit einer sehr angenehmen, matten Oberfläche, die die Farbkraft Hausners ohne Verluste wider gibt. Der Verleger von True Lies, Thoman Zuhr, freut sich im Interview mit dem Branchenblatt Buchmarkt über „die seit Jahren steigende Qualität in Reproduktion und Druckindustrie, wir konnten Kunst noch nie in solch hoher Qualität reproduzieren.“

Neben seiner Bildervielfalt ist True Lies auch ein Lesebuch. Literarische Prominenz Österreichs  mit Ransmayr, Kehlmann, Jelinek, Eva Menasse, Barbara Zemann und anderen steuert Kurztexte und Interpretationsangebote bei. Zum Titel des Buchs True Lies erklärt Hausner der Kuratorin Elsy Lahner: „Wir leben doch immer mit unseren jeweiligen Annahmen der Wirklichkeit, die sich meistens als Irrtümer, als Wahrheiten bis auf Weiteres erweisen. . . Ich male Romane, erfundene Geschichten, die der Betrachter mit seinem eigenen Leben zur Deckung bringen kann.“ Dass sie bei ihren Inszenierungen gerne mit Schauspieler*innen arbeitet erklärt sie im selben Interview damit, dass diese keine passiven Objekte, sondern handelnde Akteure sind: „Wer sich auf diesen Prozess im Atelier einlässt, trägt die Entstehung des Bildes mit.“  

„Ein Buch ist eine Kunstform eigener Art“

Das Buch lebt von der Kraft der Hausner-Bilder. Gleichzeitig fällt mir allerdings das für einen die Ausstellung begleitenden Katalog außergewöhnliche Layout auf. Die klassische Anordnung –  Tableaus mit Titel und Entstehungsjahr – ist aufgelöst. Stattdessen spielt das Layout mit Ausschnitten und Details, zum Teil extrem vergrößert auf Doppelseiten. Dadurch entstehen neue Blickwinkel, die beim Betrachten des Originalbildes vielleicht unentdeckt bleiben. Teilweise werden die Bilder randabfallend oder über den Falz in der Mitte geduckt. Das ist mutig und gibt ihnen maximale Wirkung. Das ist das Schöne am Buch. (Siehe auch das kleine Interview mit Xenia Hausner im Abspann). Nicht eine gedruckte Ausstellung, sondern eine ganzheitliche Präsentation von Hausners Arbeiten. Ergänzt werden die Abbildungen durch Fotos aus den Atelier-Sessions, wie ein „making of. . .“. Ein gedrucktes Buch ist schon was wunderbares, wenn es – wie hier – richtig gut gemacht ist. Bei so viel Lob wird es Zeit für mein Haar in der Buchstabensuppe: André Hellers sieben-sätziger Beitrag hat in etwa die gleiche Länge wie seine abgedruckte Vita im Anhang. Ist Seite 204 etwa Prommi-Posing?

Das Buch verkürzt unsere Wartezeit bis zur Ausstellung

Wenn alles gut geht, dann dürfen auch bald Wien-Reisende die Ausstellung True Lies in der Albertina geniessen. Ich habe den schweren Katalog in meine ALDI/Hofer-Tasche (von XH gestaltet) packen und bin durch die Ausstellung flaniert. Ansonsten hat True Lies Regalverbot, es viel zu schade zum Zuklappen. Xenia Hausner verabschiedet sich mit einem Selbstbildnis mit herabhängender FFP2-Maske aus dem Buch. Mit einer Mischung aus Skepsis und Wehmut im Blick. Dabei sollte sie sich freuen. True Lies ist ein Ausstellungskatalog der überhaupt nicht wie ein Ausstellungskatalog aussieht. Und das tut Künstlerin, Verlag und Albertina gut und vor allem unseren coffeetables.

Elsy Lahner, Klaus-Albrecht Schröder (Hrsg.): Xenia Hausner TRUE LIES,  240 Seiten, Hirmer Verlag, € 45 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.

(c) 2021 Kurt Pohl

Xenia Hausner/Berlin antwortet trooboox/Wien:

Frau Hausner, beim Abdruck ihrer Bilder im Buch haben Sie ein sehr dynamisches und modernes Layout zugelassen: randabfallender Druck, Abbildungen über den Mittelfalz, Ausschnitte und Details. Das gibt Ihren Werken neue Perspektiven. Hatten Sie keine Angst, dass ihre Bilder dadurch ein zweites Leben bekommen, ja sogar neue Bilder entstehen?

Xenia Hausner: Ein Buch ist ein Kunstwerk eigener Art, dadurch entstehen neue Perspektiven und sehr erwünscht – ein völlig neuer Blick auf vielleicht schon Bekanntes. Ganz bewusst ist der Katalog nicht wissenschaftliche Bestandsaufnahme, sondern ein Künstlerbuch, das sich die Freiheit nimmt das Werk zu verändern. Nicht umsonst heißt das Buch „True Lies“!

KP: Sie verabschieden sich aus dem Buch mit dem Ausschnitt eines Selbstbildnisses mit herabhängender FFP2-Maske. Aktuelle Bezüge dieser Art sind in Ihrem Werk bisher kaum zu finden. Ist dieses Bild ein bedrückter Kommentar zur Lage?

Xenia Hausner: Das Bild ist zwar ein Kommentar zur Lage, aber ich bin nicht die tagesaktuelle Reporterin. Das Zeitgeschehen fließt gefiltert durch meinen subjektiven Blick in die Arbeit ein.  Andere aktuelle Bezüge dieser Art sind durchaus in meinem Werk zu finden, so zum Beispiel in den „Exiles“ Bildern. Migration im Sinn von Wurzellosigkeit oder Unzugehörigkeit als Grundsituation unserer Existenz sind das Thema.

KP: „True Lies“ war schon der Titel einer Agentenkomödie mit Arnold Schwarzenegger. Machen halbe Wahrheiten und wahre Lügen unser Leben einfacher?

Xenia Hausner: Alles woran ich arbeite ist ambivalent und fragmentarisch, bei mir gibt es keine eindeutigen Botschaften, das Leben ist ja auch nicht schwarz-weiß, sondern verwirrend vielfältig. Über Erfindung und Fiktion – also über die Lüge – lernen wir die Welt besser zu verstehen. Darum geht’s ja irgendwie in der Kunst.

Bildnachweis: Alle Abbildungen/all pictures Xenia Hausner © Bildrecht, Wien, 2020

Die abfotografierten Seiten sind dem Buch True Lies entnommen (c) 2020 ALBERTINA, Wien; Hirmer Verlag GmbH, München

Da passt alles: chic renoviertes Museum, „signature“ Ausstellung und ein wuchtiger Katalog.

Wochenlang musste der schwergewichtige Katalog auf seine Ausstellung warten. THE BEGINNING zeigt auf über 600 Seiten die Entwicklung der österreichischen Kunst von 1945 bis 1980: den Wiener Phantastischen Realismus, die Wiener Aktionisten, Pop Art made in Austria und gesellschaftskritischen Realismus. Eine „signature exhibition“ zur Eröffnung eines neuen Museums.

Eine Sammlung sucht ein Zuhause

Die Vorgeschichte zum Museum: Die österreichischen Baumarkt-Könige Essl (bauMax) verloren 2014 per Insolvenz nicht nur ihr Bastler-Imperium, sondern in der Folge auch eine kompetente Sammlung moderner Kunst. Rettend sprang der größte Bauunternehmer Österreichs, Hans Peter Haselsteiner (STRABAG), ein. Wie in Schnitzlers Der Reigen bewegte sich die Sammlung Essl in Österreich vorwärts (nachdem einige internationale Preziosen versteigert wurden) und in neues Zuhause. Haselsteiner ließ flux das Wiener Künstlerhaus renovieren und „schenkte“ damit der renommierten Graphiksammlung ALBERTINA einen zweiten Standort mit dem Attribut modern. Mit der internationalen Betonung auf der ersten Silbe, wie beim touristischen role model, der Londoner Tate Modern.

Hundertwasser tanzte auf allen Kunsthochzeiten

Kurzer persönlicher Einschub:  Die Wahrnehmung österreichischer Kunst in Deutschland Mitte der siebziger bis in die achtziger Jahre war relativ einfach strukturiert. Durch umfangreiche Vermarktung dominierte Friedensreich Hundertwasser: seinen aufwendig und hochprofessionell gedruckten Postern und den architektonischen Aufhübschungen im öffentlichen Raum konnte man ebenso wenig entrinnen, wie seinen Auftritten im Hauptabendprogramm am Samstag. Die phantastischen Realisten Ernst und Hausner erreichten das Spiegel-Publikum, Helnwein die Stern-Leser, Nitsch die Kunstmagazine wie art, und der unsägliche Otto Muehl tauchte mit nackten Körperteilen als Fotoschnipsel in hektographierten antiautoritären Underground-Blättern auf (den Begriff „Hektografie“ erkläre ich gerne auf Anfrage).

Es ist die Zielsetzung der Kuratoren, die Aufarbeitung und den Neubeginn nach der nationalsozialistischen  Diktatur zu zeigen. Wie schwer sich die österreichische Kunstszene noch 1949 mit Aufarbeitung tat, zeigt folgende Episode: Der im Katalog vertretene Arnulf Rainer verließ schon drei Tage nach Aufnahme an der Akademie der bildenden Künste diese wieder. Seine Arbeiten wurden als „entartet“ klassifiziert. Zwar bildete sich schon 1946/47 der Art Club als Plattform für junge Künstler, aber der Nationalsozialismus warf noch lange Schatten auf den Kulturbetrieb durch übrig gebliebenes Personal an Hochschulen und in Medien. Die Folge waren Zensur, Verspottung und Behinderung der jungen, das alte ignorierenden Gegenbewegung. 

Neustart mit konkurrierenden Künstlergruppen

Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder stellt in der gut recherchierten Einleitung klar, dass der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg von mehreren Avantgarden gestaltet wurde: „Nur als Summe der einander mit großer Leidenschaft oft feindlich gegenüberstehenden Künstlergruppen erhält man ein ganzes Bild dessen, was in seiner Gesamtheit zum Kraftwerk für die Kunst des 21. Jahrhunderts werden sollte.“ Katalog und Ausstellung geben allen Gruppen, die sich vorranging aus ihren Spielstätten in der Wiener Innenstadt, dem Art Club und der Galerie nächst St. Stephan, bildeten, ausführlichen Raum. International am schnellsten etablierte sich die Gruppe „Wiener Schule des Phantastischen Realismus“ mit Protagonisten wie Friedensreich Hundertwasser und Ernst Fuchs. Weitere Gruppen bildeten die feministische Avantgarde um Valie Export, sowie die Wiener Aktionisten einerseits um Hermann Nitsch, andererseits die Kommune um Otto Muehl. Dem Regelbrecher Muehl wird – nicht mehr zeitgemäß – viel Raum in Ausstellung und Katalog gegeben.

Die Mühe mit Muehl

Seine Rolle innerhalb seiner Kunstkommune war mehr als zweifelhaft und wurde strafrechtlich belangt. Mag durch das Freud’sche Erbe die Toleranzschwelle  für Grenzüberschreitungen in der österreichischen Kunst niedriger als woanders sein – wir leben zu Recht in achtsamen Zeiten. Nicht nur das Werk zählt, sondern auch das wirkliche Wirken. Zwar beschäftigt sich auch der österreichische Kulturphilosoph Konrad Paul Liessmann in seinem Katalogbeitrag Blasphemie und Kitsch damit. Aber ratlos lässt er den Leser mit folgendem statement  über den verurteilten Otto Muehl zurück: „Der Verdacht, dass Muehl die minderjährigen Modelle missbraucht habe, degradiert die Kunstwerke zu bloßen Dokumenten eines kriminellen und moralisch verwerflichen Aktes“. Drückt das Wort „Degradierung“ Unzufriedenheit mit dem Lauf der Diskussion aus? Ich werde daraus nicht schlau.

Die umfangreichen Textbeiträge im Katalog bieten viel Hintergrund: den Künstler*Innen Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser, der kraftvollen Maria Lassnig, Valie Export und dem Objektkünstler Franz West sind eigene Kapitel gewidmet. Ebenso wie den Themen Phantastischer Realismus und Aktionismus. Der Beitrag Gewalt und Traumata beleuchtet die Werke der neuen Realisten wie z.B. Gottfried Helnwein. In allen Beiträgen blitzt immer wieder auf, dass der Reiz österreichischer Kunst (und Kultur im allgemeinen) auch in Grenzüberschreitungen inklusive feel bad-art liegt. Ebenso gehört das phantasiereiche und oft mühelose Wechseln zwischen den Genres zu den österreichischen Besonderheiten. Kurz vor der Seite 600 ist noch eine überraschende Chronologie versteckt, die wichtige künstlerische Meilensteine im zeitgeschichtlichen Kontext verortet. Nicht übersehen!

Abbildung aus Katalog: Robert Klemmer

Überraschender Pop Artist

Der Besuch einer Ausstellung lebt von Überraschungen und Entdeckungen: für mich ist es der interessanteste Pop Artist Österreichs, Robert Klemmer. Leider war ihm nur eine kurze Schaffenszeit gegönnt, denn der 1938 in Niederösterreich geborene, gelernte Fernmeldemonteur und Autodidakt verstarb bereits 1971. In der Regel malte Klemmer sich selbst und sein engstes Umfeld. Ihm ist das unverwechselbare Titelmotiv für Ausstellung und Katalog zu verdanken. Eine weitere Entdeckung ist  für mich Eduard Angeli (geb. 1942) mit seinem geheimnisvollen Realismus aus den 1970er Jahren. Er verwendete Postkarten mit kolonialen Motiven, die er während seiner Zeit in Istanbul (1967 bis 1971) auf Flohmärkten aufstöberte. Und es gibt im Katalog ein Wiedersehen mit Max Peintner, dessen dystopisches Bild „Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur“ Vorlage für die Kunstaktion im Klagenfurter Fußballstadion im Herbst letzten Jahres war. Ich berichtete.  Schon 1970 erkannte Peintner das Schutzbedürfnis unserer Natur.

Katalog und Ausstellung verdienen Besucherandrang

Die Ausstellung scheint zu einem Publikumserfolg zu werden. Und aus einem Ausstellungskatalog ist ein Standardwerk über die Entwicklung der österreichischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg geworden. Interessant, voller Informationen über die taktgebenden Strömungen und abwechslungsreich. Für die Mitnahme in die Ausstellung ist er mit über 3 Kilogramm etwas schwer. Aber wir können uns mit ihm auf einen lohnenden Trip ins sommerliche und herbstliche Wien bis zum 8. November vorbereiten. Immer wieder neue Seiten entdecken – das funktioniert auch zuhause sehr gut. Der Katalog gehört gesehen.

Klaus Albrecht Schröder (Hrsg.), THE BEGINNING, 608 Seiten, Hirmer Verlag, € 55 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.

(c) Kurt Pohl 2020