Kategorie: Graphic Novels | Comics

Die besten Geschichten zeichnet das Leben.

Zwei Graphic Books haben mich gut durch die kalten Wochen begleitet. Die Graphic Buddies vom Verlag Reprodukt haben ein Supergespür für Stoffe und Zeichner*innen. Jetzt sind es Die Entdeckung der Currywurst und Der Mann im Pyjama, mit denen uns Reprodukt beeindruckt.

Die Wohnung als Festung, der Pyjama als Rüstung

Paco Rocas Lieblingsbeschäftigung ist Wohnen. Noch lieber ist ihm Wohnen samt Pyjama tragen. Ganz so, als hätte er Pandemie, lock downs und home office schon vorweg genommen. Festung und Rüstung sind allerdings sehr durchlässig, denn Roca ist ein exzellenter und konsequenter Beobachter: von sich selbst und von Menschen seiner Umgebung. Gehen wir einfach davon aus, dass Der Mann im Pyjama zu 90% autobiografisch ist. Selbst erlebt oder von guten Freunden/Freundinnen erzählt. Ihn beschäftigen die typischen Themen, wenn man in der Mitte seiner persönlichen Entwicklung steht. In der Mitte von Partnerschaft, von Familie, Beruf, Karriere, Freunden, Erwartungen und Niederlagen.

Zeichner einer neuen Generation

Rocas amüsante Pyjama-strips erschienen zuerst in der Tageszeitung Las Provincias in Valencia. Zu einem der Stars der europäischen Zeichner-Szene wurde er allerdings mit seinen preisgekrönten Graphic Novels zu gesellschaftlichen Themen wie Demenz (dt. Kopf in den Wolken, verfilmt) oder seiner in der Franco-Ära spielenden Familiengeschichte (Rückkehr nach Eden, siehe meinen post). Seinen Zeichenstil modifiziert Roca je nach story, sein Gefühl für eine gute Geschichte bleibt konstant.

Scheitern mit Humor und Würde

Der Mann im Pyjama ist ein Wälzer mit allen Arten von Humor. Je nach Lebensfrage würzt Roca seine Comic-Shots mit Ironie, Zynismus, Tragikomik, Sarkasmus oder kleinen Brüllern. Und uns geht es wie Paco Roca: entweder haben wir dieses Scheitern selbst schon erlebt, oder wir kennen jemanden, dem es auch so ergangen ist. Meist sind es Beobachtungen zu würdevollem Scheitern – Donald Duck hat das nicht so gelassen hinbekommen. Vielleicht haben wir ja selbst einen Freund im Pyjama. Das Buch ist wie geschaffen, um spät abends mit oder ohne Pyjama wegzudriften.

Paco Roca, Der Mann im Pyjama, Reprodukt | € 35 in deiner Lieblingsbuchhandlung

Anderes Thema: Liebe oder Verzweiflung?

Bereits Ende der neunziger Jahre hat die Illustratorin Isabel Keitz Uwe Timms anrührenden Roman Die Entdeckung der Currywurst als stimmige Graphic Novel umgesetzt. Der Berliner Verlag Reprodukt hat die Novel wieder aufgelegt, denn der Stoff ist unverändert packend. Dabei fängt die Illustratorin Keitz (Jahrgang 1967) die hin und her gerissene Hamburger Nachkriegsstimmung mit holzschnittartigen, fast grobschlächtig theatralischen Gesichtern und Szenen ein. Keitz komprimiert diesen aus einem Mix aus Zeitgeschehen und Fiktion entstandenen Roman von Uwe Timm, ihre Bilder schaffen dafür eine neue und dichte Nacherzählung.

Wirtschaftswunder-Wurst

Der Zufall eines Bombenalarms führt den Marinesoldaten Bremer statt zu seiner neuen Einheit und in den sicheren Tod unter die wärmende Decke der älteren Lena Brückner. Und wird über Nacht zum Fahnenflüchtling, denn Lena versteckt ihn in ihrer Wohnung – nicht ohne Eigeninteresse, denn ihr Mann ist irgendwo an einer sicheren Front mit Zweitfamilie. Es sind die letzten, dramatischen Tage im April 1945, kurz vor Kapitulation und Kriegsende. In einem Schwebezustand zwischen Erleichterung und Resignation, Hoffnung und Unsicherheit, was jetzt kommt. Lena hält die Meldung der Kapitulation zurück, Bremer muss noch in seinem “Verließ” bleiben, bis die Wahrheit nicht weiter zu verschleiern ist und er die Flucht ergreift – überraschenderweise auch er zu Frau und Kind. Ein weiterer Kriegszufall will es, dass die Hamburgerin Lena die Currywurst entdeckt, die am Hamburger Grossneumarkt für Jahrzehnte ihr Einkommen sichern wird.  Für Berliner eine wagemutige These. Diese und andere Geschichten aus Lenas Leben erfährt der Ich-Erzähler aus Timms Roman, wenn er – inzwischen aus München anreisend – an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt und Lena Brücker im Altersheim bei Kaffee und Kuchen zuhört.

Eine flüchtende Liebe

Isabel Keitz hat bereits Kinderbücher von Erich Kästner erfolgreich als Comic adaptiert und damit ein Gefühl für Klassiker. Die Entdeckung der Currywurst hat sowohl als Roman als auch gezeichnet etwas von einem Klassiker einer deutschen Melancholie.  

Isabel Kreitz, Uwe Timm, Die Entdeckung der Currywurst, Reprodukt | € 18 in deiner Lieblingsbuchhandlung

(c) 2023, Kurt Pohl

Mein Tipp für den Sommerurlaub: Ein Ausflug ins Paradies

Geschichten, die am Meer ihren Anfang nehmen, sind natürlich eine ideale Urlaubslektüre. Meine Empfehlung für einen wunderbaren Strandtag ist die graphic novel Rückkehr nach Eden des spanischen Zeichners und Autors Paco Roca. Den roten Faden bildet das Sofortbild eines Familienausflugs ans Meer nahe Valencia. Auch wenn die Familie an diesem Sommertag nicht komplett ist, entspinnt Roca daraus rund um die jüngste Tochter Antonia (Rocas Mutter) gleich mehrere Leben. Und damit beschert er uns melancholische, staunende und amüsante Momente.

Ein Elternhaus im Franco-Regime

Paco Roca nimmt uns mit in seine Familienerinnerungen. Im Mittelpunkt stehen seine Großmutter Carmen und vor allem seine Mutter Antonia. Das Strandfoto wird für Antonia Begleiter eines langen Lebens und einer schlimmen politischen Epoche. Ihre Eltern könnten für die Säulen der Franco-Ära stehen: denn auch wenn Vater Vicente auf Seiten der republikanischen Franco-Gegner gekämpft hat, hält er seine Familie doch als häuslich gewalttätiger Diktator in Schach. Er ist ein ausgeprägter Egoist, der sich trotz des großen Hungers seiner Familie heimlich von seiner Mutter mit Essen versorgen lässt. Die katholisch-bigotte Mutter Carmen bildet die zweite Säule, sie vertröstet ihre sechs Kinder auf die Belohnungen im Garten Eden – leider erst nach dem Tod. Antonia ist ihre jüngste Tochter. Aufgrund der großen Armut ist sie früh zum Hinzuverdienst verpflichtet. Statt Lesen und Schreiben zu lernen, lehrt sie ihre Mutter Carmen Demut und die Ehrfurcht vor Gott. Denn die einzige Chance, die das Leben Antonia bietet, ist eine gute Ehefrau und Mutter zu werden. Immerhin lernt sie mit ihrer Lieblingsschwester Amperia nicht nur die Traumwelt des Kinos kennen, sondern auch wie die Männer ticken.

Hitler diesmal in einer Nebenrolle  

Roca führt uns auch kurz in die politische Seite der bei uns kaum bekannten Franco-Ära ein. Franco wollte Spanien – auch mit Hilfe der katholischen Kirche – zu altem imperialen und kolonialem Glanz zurückführen. Franco war eine Art monarchistischer Hitler (auch Adolf hat einen kurzen Auftritt) und hielt sich mit Angst und Schrecken an der Macht.

Rückkehr nach Eden ist eine sehr literarische graphic novel. Roca nimmt sich auch erzählerischen Raum für seine Figuren. Trotz Armut, trotz politischer Verfolgung und den daraus entstehenden Lebensrealitäten führt er sie mit Melancholie, Humor und Zuversicht durch die Geschichten. Das Foto vom Strand bleibt Antonias Begleiter bis ans Ende ihrer Tage, als sie noch einmal den Hochseil-Artisten Don Milan aus ihrer Kindheit trifft, auf seinem Weg mit einem Ballon in unendliche Höhen. . .

In seinen Bildern wechselt Roca zwischen knappen filmischen Einstellungen und Nahaufnahmen und üppigen Tafelbilder über mehrere Felder. Dabei übernimmt er die Sepia-Töne alter Fotos und coloriert sparsam und ausdrucksstark, in wenig bunten Töne – das passt zu Antonias Lebensgeschichte. Die deutsche Übersetzung von André Höchemer wirkt sehr einfühlsam und behält den literarischen Ton.

alle Abbildungen (c) 2021 Reprodukt

Priester mit Brathuhn

Gleich zu Beginn der graphic novel fasziniert mich die Entstehung des Strandbildes: Der Fotograf schleppt eine unförmige Plattenkamera samt Stativ, deren Innenleben durch eine Miniaturdunkelkammer samt Tauchbäder ergänzt ist. Immer wieder überrascht Roca mit seinen Szenen und setzt der Mühsal des tristen Lebens Lakonie entgegen: Wenn der Liebhaber ihrer großen Lieblingsschwester im dunklen Kino deren Knie erkundet und Antonia einschreitet. Oder das Bild des katholischen Priesters im Talar, dessen Kopf Paco Roca durch ein Brathuhn ersetzt. Diktatoren-Jahre sind nur für eine kleine Elite auch fette Jahr. Wie die Historie auch aktuell immer wieder beweist. Meine Empfehlung für einen gelassenen Tag am Strand. Unvergesslich wie das Strandfoto der kleinen Antonia.

Paco Roca, Rückkehr nach Eden |184 S. | € 24 | hier.

(c) 2020 Kurt Pohl

Einem Krokodil sieht man gleich an, dass es keine Freunde sucht.

Mit der Comic Strip-Sammlung Happy Place ist Max Baitinger ein Buch zur Beruhigung der Lage gelungen. Wir dürfen uns nicht vom Weg abbringen lassen. Wenn du Happy Place zum ersten Mal durchblätterst, denkst du unwillkürlich an die Begrüßung „liebes Tagebuch“. Max Baitinger begegnet uns schon auf den ersten Seiten als einer der Hauptdarsteller seiner comic stories.

Wie „so what!“ unseren Alltag ordnet

Sein Tag beginnt entspannt mit einer Yoga-Übung. Und erst wenn eine Bildmeditation mit dem Affen Bobo „Los“ sagt, starten die Tagesabläufe. Und wir tauchen mit ihm ein: zum Baumarkt, zur Kundenpräsentation, in die Mittagspause, zum Kickboxen, in eine Bar mit einem Freund. Immer gespickt mit Erkenntnissen: „Wir sind das erste Mal glücklich und pleite.“ – „Die Anfrage eines Großkonzerns lehne ich ab.“ – „Und generell im Leben bin ich kein wählerischer Gast.“ Maschinen entscheiden über eine Zahnbehandlung, Steuersysteme des Finanzamts verweigern Antworten, das Geheimnis eines Idols ist dann doch nur „. . . die dümmste Idee, die ich je in meinem Leben gehört hatte.“ Hinter den Dingen stecken weniger Geheimnisse als wir erwarten. Am deutlichsten zeigt Baitinger das im Dialog mit sprechenden Webseiten: „Datenverlust könne die Folge sein.“ Viele seiner Geschichten lassen uns mit einem angenehm beruhigenden„so what!“ zurück. Der Alltag steckt voller absurder Erlebnisse und Gespräche. So what, weiter suchen.

Max Baitinger sitzt wohl gerne auf einem Sitzball. Das trainiert die Wirbelsäule und die Gasdruckfeder seines Bürostuhls hat ohnehin ihren Geist aufgegeben. Das lese ich aus seinen comic-stories. Geboren 1982 in Penzberg/Oberbayern, studierte er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Und er ist dort geblieben. Gerade erst wurde er mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung für 2020 ausgezeichnet. Die Stiftung fördert Projekte in  progress. Wir können uns jetzt schon auf Baitingers neues Buch Sibylla freuen.

Baitinger zeichnet literarische short-short-stories

Am besten lässt du dich schnell auf seine ausgeprägt sequentielle Erzählweise ein, denn dann verfolgst du spannende short-short-stories. Echte Literatur trifft auf eine Menge toons mit menschlichen Zügen. Max Baitinger zitiert gerne bekannte Comic- und Fantasyfiguren. Vom dänischen Petzi und Pelle über den Koch (und andere) aus der Sesamstrasse bis zum Star Wars character. Sogar ein Fundstück aus Heinz Edelmanns Yellow Submarine ist darunter – wenn ich mich nicht täusche. Sind Tiere für Baitinger die besseren Menschen? „Ich sehe das eher umgekehrt. Einem Krokodil sieht man gleich an, dass es keine Freunde sucht.“

Wie schon bei Birgit umgeht er den klassischen Vierfarbdruck, sondern setzt auf ein extrem tiefes Schwarz und drei Sonderfarben. Dabei geht es ihm nicht um reale Farbzuordnungen. Auf meine Nachfrage erklärt er seine Vorgehensweise: „Die Bilder in Happy Place sind als Marker-Zeichnungen auf Papier entstanden und am Computer koloriert. Die Farben verwende ich dabei als grafisches Mittel um Bildkompositionen zu unterstreichen sowie bestimmte Farbstimmungen zu erzeugen. Für diesen Zweck genügen mir zwei bis drei Farben. Bei dieser Reduktion ist mir auch wichtig, dass die Linien der Zeichnung nicht an Wirkung verlieren. Gleichzeitig hält es mich davon ab auf Lokalfarben Rücksicht zu nehmen oder mich in Entscheidungen über Koloration zu verlieren. Das macht vieles einfacher.“

Aus Candyland

Happy Place ist ein beruhigendes Buch. Und Baitinger scheint ein gelassener Mensch zu sein. Darauf angesprochen, ob ihn das Arbeiten mit Holz während seiner Ausbildung zum Schreiner zur Gelassenheit geführt hat, entgegnet er: „Ich fand den Umgang mit Arbeitszeiterfassung und wertvollen Hölzern eher stressig. Gelassenheit  kam aber durch die Übung, handwerkliche Vorhaben zu durchdenken und zu planen. Da ich weitgehend analog arbeite, hilft mir das heute noch. Leider flippe ich immer noch aus, wenn die Zeichnung nicht gleich so aussieht, wie ich es gewünscht habe.“

Das Buch endet mit der wunderbar entspannten Geschichte „Neu und besser“. Sie ist eine philosophische Zusammenfassung aller strips und steckt voller Weisheiten: „Schließlich machen wir uns auf die Suche nach einem besseren Ort. – Einem Ort, der uns alle glücklich macht.“ Und so lassen sich alle Figuren aus Happy Place zu einer Insel für ein neues Selbst treiben, von dem wir uns in einem Kreis sitzend, erzählen: „In maximal drei Sätzen. Nach dem Uhrzeigersinn. Beginnend zu meiner Linken.“ Unterwegs treiben wir vorbei an Tim ohne Struppi, am Münchner im Himmel und auch wieder an Freund Petzi. Eine letzte Frage an Max Baitinger:  „Für welche happy places sollten wir uns auf den Weg machen?“ – „Ich empfehle einen, der sehr weit weg liegt. Ich fürchte die Langeweile nach der Ankunft.“

Max Baitinger, Happy Place, 160 S., gedruckt in vier Sonderfarben, stabile Fadenheftung, Layflat-Bindung, Rotopol | € 18 in deiner Lieblingsbuchhandlung

(c) 2020 Kurt Pohl