Auf meinem Geburtstagstisch landete ein auf den ersten Blick unspektakuläres Fotobuch mit dem sperrigen Titel Almost. Es passt nicht nur auf jeden schmalen coffeetable, sondern beantwortet abschließend die Frage, was macht ein Reiseschriftsteller, wenn er wegen der COVID-Regeln nicht mehr reisen durfte. Wojciech Czaja suchte die Abenteuer vor der Haustür – auch wenn in diesem Fall vor der Tür nur Wien lauert. Und fand 100 Städte in einer. Auf dem Titelfoto glauben wir uns gerade durch Isfahan zu bewegen, in Wirklichkeit erliegen wir einer Illusion im Wiener Stadtteil Döbling.
Ein Reiseführer für Wien und anderswo
Es zeichnet den Kreativen aus, dass er Objekte, Situationen und Motive entdeckt, für die der Normalverbraucher weder Blick noch Sinn findet. Wojciech Czaja, geboren 1978 in Ruda Slaska im südwestlichen Polen, lebt als Journalist und Buchautor in Wien und reist gerne. Weil ihm als Reisejournalist während der Ausgangssperren die Decke auf den Kopf fiel, flanierte er motorisiert durch Wien auf der Suche nach der weiten Welt: an welchen Orten sah es wenigstens fast (almost) so aus wie in Chicago oder Angkor Wat. Auf den richtigen Bildausschnitt kam es an. Je weiter er durch Wien stromerte, desto mehr von der Welt entdeckte er in Details und fütterte damit seinen Facebook-Account. Follower-überströmt sammelte er likes und es ward eine Ausstellung und ein Buch. New York, Rio und Tokio waren plötzlich ganz nah und ohne Einreise-Quarantäne zu erreichen. Die shownotes informieren über den technischen Support seiner Wiener Weltreise: eine Vespa GTS 125 und ein iPhone 8 mit 64 GB für die Motive, google maps für deren Validierung. Almost hat zwar seinen Ursprung in social media, wirkt aber als Reiseführer in Print noch lebendiger als im Netz.
Was ist eigentlich dessauisch oder irkutskisch an Wien?
Wir sehen eine schnörkellose Treppe mit einem reduzierten Handlauf, quadratische, nüchterne Milchglasscheiben im Hintergrund und lesen „Dessau“. Klar, so stellen wir uns ein Bauhaus-Museum vor. Neben den speziellen Perspektiven fängt Wojciech Czaja Stimmungen ein und schon assoziert unser Gehirn. . . guter Zaubertrick. Sein Buch-Buch zeigt zweierlei: wie immer im Leben, kommt es auf die Perspektive an. Und – kulturelle Mitbringsel aus aller Welt machen unsere Städte lebendiger.
Dresdner Plattenbauten nähe Praterstern
Isfahan grüsst Wien-Döbling
Kultur-Mix aus Sofia in Wien-Altmannsdorf
Jetzt bloß keine Covid-Bücher! Außer diesem hier.
Das Buch ist äusserst unterhaltsam und taugt zu einer charmanten Erinnerung an unsere Zeit der scharf begrenzten Radien. Czaja hatte nicht nur eine beneidenswerte Idee, er animiert zum flanieren und entdecken, zu Fuß oder auf zwei Rädern. Wenn uns die Sehnsucht packt, zuhause in Winterthur, Augsburg, Bratislava oder sonst wo – machen wir Schnitzeljagden durch ferne Städte. Wir werden schon was finden. Almost everywhere. Vielleicht sind wir ja zuhause auch nur almost zuhause. Bleibt die quälende Frage: wieso fällt mir so etwas nicht ein? Habe zwar nur ein Fahrrad, aber immerhin ein iPhone X.
Wojciech Czaja: Almost – 100 Städte in Wien, 223 Seiten, Edition Korrespondenzen, € 20 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.
Von außen wirkt der Bayerische Wald mächtig und gelassen, aber im inneren tobt mit mehr als 11.000 Tier- und Pflanzenarten das Leben. Auf meinem coffeetable liegt das Buch Wilder Wald voller wissenswerter und überraschender Informationen. Mit viel Empathie und Ideen hat die Journalistin Alexandra von Poschinger ein ausgesprochen schönes Buch zum 50. Geburtstag des Nationalparks Bayerischer Wald geschrieben und zusammengestellt. Mit besten nature writing geht sie der Wildheit das Parks auf die Spur, gleichberechtigt ergänzt durch eindrucksvolle Fotos des langjährigen Nationalpark-Flaneurs Rainer Simonis. Beim ersten Schnelldurchgang fallen mir neben der Vielfalt der Beiträge die vielen Interviewpartner auf: so viele Prominente – ob das gut geht?
Deutschlands erster Nationalpark
Vor fünfzig Jahren wurde gegen den heftigen Widerstand der ansässigen Bevölkerung und Wirtschaft ein mittlerweile fast 25.000 Hektar großes Gebiet des Bayerischen Waldes zum Nationalpark gewidmet. Stein des Anstoßes und revolutionärer Ansatz war das Ziel, nicht in die Entwicklung der Natur einzugreifen: „Natur Natur sein lassen“. Etwa 1,4 Mio Besucher sehen sich den wilden Wald in jedem Jahr an der Grenze zu Tschechien an. Sie kommen zum Schauen, Wandern, Biken, Entspannen und Eintauchen.
Ein Buchgeschenk zum Jubiläum
Das Buch zum
Jubiläum des Parks ist von der ersten Seite an ein angenehmes Leseerlebnis: wertiges
Papier, nachhaltig gedruckt. Inhalt, Optik und Haptik sind fein aufeinander
abgestimmt. Ein kurzweilig feuilletonistischer
Mix aus Reportagen, Porträts, wissenschaftlichen Informationen, Geschichten aus
dem Nationalpark-Alltag und vielen, in Summe zu vielen Interviews. Einige Beispiele: Josef Käser (ja, der
Siemens-Joe) hat sich im Bayerischen Wald gleich einen 1133 m hohen Hausberg
gekauft – weil er ihn so mag (logisch!). Die Europa-Abgeordnete Sarah Wiener hingegen
findet die Geschehnisse in unserem Darm ganz wichtig und drückt sich bei der
Frage nach einem Jubiläumsmenü zur Fünfzigjahrfeier. Und veryweird schießen die
Aussagen von Jägerin Gloria von Thurn und Taxis an der Gegenwart vorbei: mit
Verweis auf katholischen Katechismus und Tugendlehre sieht sie in der gleichberechtigten Sicht von Tier- und
Pflanzenwelt die Handschrift des Teufels.
Im Verhalten von Raubtieren und „archaischen Naturvölkern“ erkennt man, „dass
die Natur von uns Menschen gebändigt werden muss“. Von wegen Natur Natur sein
lassen. Einige der Interviewten präsentieren sich vor allem sich selbst. Gut
gefragt, schlecht geantwortet.
Im Totholz tobt das Leben
Gehen wir schnell
zum dicken Plus des Buchs: den interessanten, informativen und faszinierenden Passagen.
Wir erfahren viel über den Wald als Wasser- und Luftspeicher und wie er sich in
den kommenden Jahren auf Klimaveränderungen einstellen wird. Auch dabei wird
sich der Wald selbst helfen (müssen). Ein anderes Beispiel: mit 2.500 Pilzarten
(und es werden noch mehr) ist der Park eines der wichtigsten Pilzreservate
Europas. Sie bilden ein gigantisches Versorgungs- und Kommunikationsnetz im
Waldboden. Viele Arten bleiben erhalten, weil der Mensch nicht in die Abläufe
eingreift. Bis hin zu Schleimpilzen, die sowohl Eigenschaften von Pflanzen als
auch Tieren besitzen. Auch wenn ich mich über einen Steinpilz an der Oberfläche
noch mehr freue.
Wir lernen einen interessanten Urwaldkäfer (einer von mehr als 2.000 Arten) kennen, der über den angrenzenden Nationalpark Sumava nach über 100 Jahren wieder aufgetaucht ist. Wie überhaupt der Bayerische Wald ein Beispiel für die internationale Zusammenarbeit ist und als Blaupause für andere Nationalparks an Bedeutung gewinnt. Und da ist noch das das leidige Thema mit dem Borkenkäfer, der bewusst nicht bekämpft wurde. Durch die Invasion der Killer-Käfer wurden riesige Waldstücke vernichtet. Das daraus nach einigen Jahren entstandene Totholz gehört mit zum lebendigsten, was der Wald zu bieten hat, denn in ihm beginnt neues Leben. Anfang der neunziger Jahre wanderte ich deprimiert durch eine weiss-graue Mondlandschaft voller abgestorbener Bäume rund um den Rachel. Gut zwanzig Jahre später dann ein glücklicher und anstrengender Gipfelweg durch frisches, neu entstehendes Grün. Der Wald nimmt sich die Zeit, die er eben braucht.
Düster, aber kein Mythos mehr.
Die zahlreichen
Fotos von Rainer Simonis geben uns einen Vorgeschmack von dem, was wir – eventuell
mit viel Glück und Geduld – im Wald erleben dürfen. Simonis war bis vor kurzem
in der Parkverwaltung beschäftigt und ist damit ein täglicher Beobachter des
Waldlebens. Er zeigt Tiere und Landschaft in allen Facetten: von putzigen Baby-Luchsen
bis zum gerissenen Wild als Futterquelle, zeigt totes Holz und lebendigstes Grün.
Die Fotos strahlen die Ruhe des Waldes aus und tun dem Buch gut.
Adieu Mythos Wald
Das Buch
liest sich wie ein dickes, unterhaltsames und informatives Magazin. Von
Poschinger ist es nicht nur gelungen, viele spannende Themen im Buch
unterzubringen, sie hat auch die Stimmung des Bayerischen Waldes für uns
eingefangen. Wald macht glücklich und zufrieden, das motiviert. Die Autorin zieht
den dunklen, deutschen Wald vom Mythos-Sockel, denn trotz des vielfältigen
nature writing wird er immer noch unter Wert genutzt. Durch Wilder Wald wird er zum zeitgemässen
Erlebnisraum. Wer ihn erkundet, darf einiges erwarten: Die Luft bläst einem dem Kopf frei,
abwechselnd Stille und glucksende Waserläufe sind der richtige sound für gute
Gedanken. Und mit etwas Glück findet man noch Funklöcher, die einem absolute
Ruhe bescheren. Wir müssen ja nicht jeden Baum einzeln umarmen.
Alexandra von Poschinger/Rainer Simonis, Wilder Wald | 224 S. mit vielen Farbabbildungen | € 40
(c) Kurt Pohl 2020
Alexandra von Poschinger/Sankt Oswald antwortet trooboox/Wien:
Von welchem magischen Platz im Nationalpark strömt für dich
meiste Kraft aus?
Das Urwaldgebiet Watzlikhain ist
für mich einer der magischsten Orte im Nationalpark Bayerischer Wald. Die
jahrhundertealten Baumriesen strömen eine irre Urkraft aus.
Lässt sich die umzäunte Gehegezone in einem völlig
naturbelassenem Wald in unseren 20er Jahren noch sinnvoll aufrecht erhalten?
Vielleicht ist die Gehegezone am
Nationalparkzentrum Lusen nicht mehr ganz zeitgemäß. Sie stammt aus den 1970er
Jahren und würde heute bestimmt anders, noch großzügiger konzipiert. Ich bin
selbst hin- und hergerissen, ob ein Zoo mit der Philosophie eines Nationalparks
einhergehen kann, komme aber zu dem Schluss, dass die Besucher der Gehegezone
schon auch sehr viel über Artenschutz und -reichtum mit nach Hause nehmen –
sicher mehr, als sie sich aus Büchern aneignen würden.
Dein Buch wirkt wie ein dickes Magazin und ist damit sehr
kurzweilig. Ist das auch die Form für dein nächstes Projekt? Kannst du etwas
darüber verraten?
Der sprachliche Duktus meines
Buchs ist bewusst ein feuilletonistischer. Das Feuilleton ist ja auch das
journalistische Ressort, aus dem ich komme. Ich wollte mit der Tradition
brechen, wissenschaftliche Themen auch wissenschaftlich zu formulieren.
Stattdessen glaube ich, mit meinem Schreibstil ein breiteres Publikum zu
erreichen – was mir schon sehr wichtig ist, betreffen Themen wie Natur-,
Umwelt-, Klima- und Artenschutz doch uns alle.
Ich habe ein nächstes Buch im
Kopf, möchte dazu aber noch nichts verraten. Alter Autorenaberglaube!
Meine Lieblingstouren sind der Rachel über den
Klingenbrunner Steig und die Hochschachten. Dein Wander-Tipp?
Ich schließe mich Deiner
Lieblingstour zu 100 Prozent an. Das nächste Mal wandern wir am besten
zusammen.
Zum Jubiläumsmenü für 50 Jahre Nationalpark fallen mir geräucherte
Ilz-Forelle mit einer Art Waldkräuter-Marinade, Schwammerl mit Semmelknödel und
abschießend gezuckerte Schwarzbeeren mit Milch ein. Wie sähe dein Festtags-Menü
aus?
Auf meinem Speiseplan zum Jubiläum stehen ein Steinpilzsülzchen als Entree, Entrecote vom Hirschkalb als Hauptgang und ein Rauschbeereneis an Fichtennadelsirup zum Dessert. Ein Gläschen Gin aus acht Bayerwald-Botanicals aus der familieneigenen Edelbrandmanufaktur, setzt dem Geburtstagsessen natürlich die Krone auf.
PS: wenn ich im Bayerischen Wald wandere, übernachte ich gerne hier: Hotel St. Florian, Frauenau (unentgeltlicher Tipp!)
Das Wörthersee Stadion in Klagenfurt hatte bisher wenig zu lachen. Zur Fussball-EM 2008 für 66,5 Mio € und drei Vorrundenspiele erbaut, ist es für den Zweitligisten SK Austria Klagenfurt mit 30.000 Plätzen überdimensioniert. Nicht nur über die Finanzierung legte sich damals der schwere Schatten des damaligen Landeshauptmanns (= Ministerpräsident) Jörg Haider. Das Stadion sah immerhin die 1:2-Niederlage Deutschlands gegen Kroatien, die 0:1 Niederlage Österreichs gegen das deutsche Team blieb dem Stadion erspart. Diese war den Wienern vorbehalten. Zur Zeit sieht man im Wörthersee Stadion den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Bis Ende Oktober ist die temporäre Kunstintervention FOR FOREST – „Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur“ von Klaus Littmann zu sehen. Der in Basel lebende Beuys-Schüler Littmann ist auf Kunstprojekte der Alltagskultur im öffentlichen Raum spezialisiert. Grundlage für diese Intervention war eine Bleistiftzeichnung des österreichischen Künstlers Max Peintner (*1937) aus den Jahren 1970/71. Die Zeichnung zeigt den Wald als urbanes Ausstellungsstück.
(c) Max Peintner
Bereits 2013 konzipiert, trifft die Aktion den Nerv der Zeit: in Sibirien und Brasilien wird thermisch abgeholzt, in Rumänien werden mehr Bäume als zulässig geschlagen, bei uns sterben wieder reihenweise Bäume durch Monokultur, Trockenheit und Schädlinge. Aktionen, Proteste und Bewegungen zur Umkehr beim Klimawandel beeinflussen unser politisches und ökonomisches Klima.
In Klagenfurt ist von den Zuschauertribünen aus auf dem Spielfeld ein Mischwald zu sehen oder vielmehr ein Ensemble aus 299 Bäumen. Denn auch ein prominenter Landschaftsarchitekt wie der Schweizer Enzo Enea kann nur ein Bild eines Waldes gestalten. Nur der Wald kann einen Wald formen. Dem reality check hält der Stadion-Wald nicht ganz stand: der Waldboden ist ordentlich mit maschinell gehäckseltem Rindenmulch bedeckt, die Waldränder mit perfekten Gärtnereifarnen und -gräsern umfasst. Buschwerk steht ordentlich zwischen Birken, Erlen, Buchen, Ahornen und Eichen. Wenn Kunst die Wirklichkeit abbildet, ist immer auch Täuschung im Spiel. Über Kunst und ihre „fake views“ siehe auch Die Lust der Täuschung.
Die Anreise nach Klagenfurt (möglichst per Bahn) lohnt sich doppelt. Alles, was uns die kritische Klimasituation vor Augen führt ist mehr als sinnvoll. Gut wäre ergänzend folgende Aktion gewesen: 25.000 Waldfans mit Schals (gibt’s im Fanshop im Stadion!), Fahnen und Bengalos feiern neunzig Minuten den Wald mit live-Übertragung. Die negative Utopie eines Waldes als Ausstellungsstück hilft der Diskussion und hinterlässt auch in der Nordkurve Eindruck. Das ist die eine positive Seite der Aktion. Und andererseits fahren wir durch den Waldreichtum Kärntens und der Steiermark. Wir geniessen dichte und unendliche Tannen- und Mischwälder, sicher voller Waldtieren, Pilzen, Beeren, Totholz und unordentlichem Naturchaos. Die Reise unterbrechen, aussteigen und zur Verlängerung durch den Wald streifen. Den echten.