Mit Harry Gelb und C. C. Cohn ging der deutsche Underground von uns.
1987 starb der Schriftsteller und Journalist Jörg Fauser beim Überqueren der A 94 bei München, sein Alter Ego Harry Gelb überlebte. Im Frühjahr 2024 verstarb achtzigjährig der Schriftsteller und Musiker Kiev Stingl in Berlin. Stingl überlebt in der Figur des C. C. Cohn, der in den Stories und Romanen seines Freundes Daniel Dubbe immer wieder seine imposanten Auftritte hat. Fauser wie Stingl waren prägende Künstler der deutschen Underground-Szene der siebziger und beginnenden achtziger Jahre. Underground bedeutete für uns das Versprechen mit Musik, Literatur und Leben „gegen die Fußgängermentalität“ der Nachkriegsliteratur anzugehen (Jürgen Ploog). Underground war die Lust auf Experimente und Provokationen, jeder konnte ein Gedicht schreiben, ein little mag herausgeben und mit ein paar Punk-Riffs auch noch Schallplatten veröffentlichen. Diesen Nerv traf – zumindest über ein paar Jahre - Kiev Stingl. Während Fauser sein eigenes Alter Ego namens Harry Gelb als Nachfolger einsetzte, war es bei Stingl die Figur des C. C. Cohn, die sich durch Stories und Romane des Hamburger Autors Daniel Dubbe zieht. Vor allem Stingl gehörte zum literarischen Personal Dubbes, bestehend aus fiktionalisierten Schlüsselfiguren aus seinem Künstler- und Philosophen-Kreis.
Kiev (Gerd) Stingl wurde 1943 im früheren Aussig geboren, heute Usti nad Labem, Tschechien. Mit drei Vinylscheiben (1975 Teuflisch, 1979 Hart wie Mozart, 1981 Ich wünsch den Deutschen alles Gute) und zwei Büchern (1979 Flacker in der Pfote, 1984 Die besoffene Schlägerei) begründete Stingl seinen Ruf als Punk-Künstler, Provokateur und Poser – eine sperrige Düsterboy-Mischung aus Klaus Kinski und Sid Vicious. Mit Stakkato-Musik und Textzeilen, die heute im wohlwollendsten Fall als politisch völlig unkorrekt etikettiert würden.
Stingls beste Zeit
Kiev Stingl war eingebunden in eine sehr aktive Hamburger Literaturszene: Als Daniel Dubbe die Gründung des Literaturmagazins Boa Vista anregte, war Stingl mit dabei. Zusammen mit Hatje, Derschau, Wyborny und anderen, wobei Stingl sich „wie üblich sofort zum Wortführer aufschwang“ (DD) und den Anarcho gab. Wie keine andere deutsche Metropole war Hamburg zu dieser Zeit das Zentrum einer neuen Literatur und hatte sogar genügend Platz für den Boa Vista-Ableger Henry (später Nancy) um den Filmemacher Heinz Emigholz. Es gab Hilka Nordhausens Buch Handlung Welt, eine wohlwollende hanseatische Literaturförderung und angeregte Diskussionen über Literatur: „Lowry steigend, Barthelme unverändert stark, Bukowski nicht mehr notiert“ (DD, Wilde Männer). Durch die Vermittlung von Derschau und Dubbe fanden auch Stingl und später Norbert Hinterberger ihren Platz in unserem schmalen Buchprogramm. [Sidestep: Hinterbergers Keine Angst ich bin nur neidisch ist für mich immer noch einer der besten unentdeckten Lyrikbände. Leider hatten wir damals den Vertrieb dafür versemmelt.]
Nervöse Gedichte in Flacker in der Pfote
Die Gedichte in Flacker in der Pfote waren einfach sensationell neu und einzigartig in einer meist verjammerten Lyrikszene. Und mit drei Auflagen das erfolgreichste Buch in unserem Undergroundverlag Pohl’n’Mayer. Die Genialität von Stingls Poesie zeigte sich durch die harte Musikalität seiner Texte und sein konsequent durchgezogenes Prinzip Content follows Form:
Stingl hat’n/Muwie drauf, Stingl/ölt sich/die Fresse. /Stingl tankt/3,50 Super/und nagelt süd-/wärts. /. . ./Stingl klaut/Irrtümer. Stingl/hat ‘ne Sehnsucht, die/schlottert, be-/vor alles Miese pustet/und es ist aus mit/Stingl.
Eine Zeit lang hofften wir auf seinen Nachfolgband Traurigste Tropen, der allerdings wie vieles andere von Kiev versandete.
Noch mehr Publikum erreichte Kiev Stingl mit seinen Platten. Und damit fing sein Desaster an. Gepusht von erfahrenen Produzenten wie Achim Reichel und Dieter Meyer (Yello) wurde er für NME-Leser zwischen der Neuen Deutschen- und der Discowelle platziert. Doch als Musiker arbeitete Stingl gegen alle: Produzenten, Presse, Bandkollegen und vor allem das Publikum. Einzig ein Auftritt in Hamburg wurde zu einem großen Erfolg. Es folgte eine kleine Clubtour durch Deutschland. Das Berliner Konzert war ein Fiasko mit Absage vor wartendem Publikum: „Ich hörte, dass Cohn zum zweiten Konzert seiner Deutschlandtournee in Berlin eine Stunde zu spät erschienen war. Die Veranstalter zahlten den Fans bereits das Eintrittsgeld zurück. Warum ließ Cohn den Act in Berlin platzen? Warum trat er nach einem erfolgreichen Auftritt in der Hamburger Markthalle nicht im Berliner Kant Kino auf? War’s wegen eines Girls? . . . Schien ihm seine Karriere eines Rockstars nicht der Mühe wert? . . . Cohn zufolge habe er vor seinem Auftritt in Berlin in der Paris Bar gesessen und sei dort nicht, wie vereinbart, abgeholt worden.“ (DD, Underground).
Ich erinnere mich vage an sein Konzert im Frankfurter Club Cooky‘s. Mayer und ich warteten zusammen mit hartnäckigen Fans und Friends auf seinen Auftritt. Nur noch trübe Erinnerungen, ob der Gig überhaupt zustande kam, mindestens kam er viel zu spät und wenn überhaupt, spielte er nur einige Songs. Er verprellte die wenigen, die ihn beklatschten. Ein wichtiger Teil seiner Kunst bestand darin, sich nicht mit seinem Publikum zu verbünden. „Cohn dachte nicht erfolgsorientiert und strategisch. Strategie war bei ihm eine aus dem Hut gezauberte Momentidee, die nicht aufging und seinem Ruf schadete. Kurz: Er schlug Türen zu, die sich für ihn noch gar nicht geöffnet hatten“ (DD). Stingl-Fans mussten mit dem zurechtkommen, was Stingl bot. Dabei hätte er viel zu bieten gehabt: Harte Beats mit rauchiger Stimme ergänzt, ein Pirat des Punks, die Hose mit einem Strick gehalten, die Brust entblößt, furchterregend als möchte er sein erwartungsvolles Publikum auffressen, mit Tattoos aus Isolierband und Kohle geschmückt. Stingl blieb auch in seinem Zwischenhoch unberechenbar, sein Künstlersein brauchte kein Publikum, vielmehr Stimulanzien und Alkohol: „Medinox war ein starkes Schlafmittel, das, zusammen mit Kaffee und Alkohol eingenommen, in einen Zustand versetzte, den Cohn so sehr liebte, dass er ihn immer wieder ansteuerte: die Trance“. (DD, Wilde Männer)
Und das war’s dann. . .
„Hitler hat den Menschen Arbeit verschafft. Er hat ihnen eine Vision von Stolz und Größe eingegeben. Besonders die Frauen haben Hitler innig geliebt.“ (DD, Salon-Faschist). 1984/85 ging Stingl nach Berlin und widmete sich mit Begeisterung seiner Lieblingsrolle – als Zwischenrufer in einer verschreckten Öffentlichkeit. Es ging ihm nicht mehr um einen Platz in der aktuellen Literatur, er wechselte zum Hitlerversteher, -verehrer und -erklärer. Von seinem ständigen Drang zur Provokation und zum Publikumsschreck war aus seinen Erfolgsjahren noch jede Menge übrig. Doch seine Genialität ging verloren.
Zwar war Stingl weiterhin künstlerisch tätig, malte, schrieb und machte weiter Musik. Quasi ohne größere Öffentlichkeit, sieht man von Inside-Berlin ab. Stand die gekränkte Eitelkeit des begrenzt erfolgreichen Künstlers hinter seiner Nazi-Verehrung? Stingl gab sich größte Mühe, Hitlers Morde an den Juden und die unzähligen Kriegstoten mit Stalins Untaten, Millionen von Toten durch seine „Große Säuberung“ und durch eine gezielte Hungersnot aufzurechnen und damit zu bagatellisieren. Bei jeder Gelegenheit einen Wettbewerb der Despoten auszurufen passte zu seinen Auftritten. Gut, dass es in Berliner Szene-Cafés damals noch keine Video-Beweise per Smartphone gab. Shitstorms und Staatsschutz hätten ihn überrollt. Und selbst die Nazi-Szene wäre von seinen kruden Argumenten überfordert gewesen. Obsessiv forderten Stingl und Cohn gemeinsam „Gerechtigkeit für Hitler.“ (DD, Salon-Faschist). Es reichte! Sein Poetry-Faden war endgültig gerissen. So schien es.
Mit Umwegen zum Publikum
In Wirklichkeit schrieb und dichtete er unaufhörlich weiter, hunderte von Seiten über Liebe, Beziehungen – und immer wieder Hitler? Ob sein Nachlass je veröffentlicht wird? Möglich, aber ich bin raus. „Es gibt keinen Schriftsteller, der nicht veröffentlichen will, dachte ich [Dubbe].“ Cohn antwortete: „Doch. Mich!“ (DD, Salon-Faschist) Also wieder schnell zurück zu den Anfängen. Da Stingl in auch seinen besten Tagen selten etwas unternommen hat, um das Publikum auf seine Seite zu bringen, hätte ich ihm gerne noch eine letzte Frage gestellt (auch wenn wir seit seiner Konvertierung zum Neu-Nazi keinen Kontakt mehr hatten): „Wie findest du dein Second Life, wenn du dich in Zitaten aus Dubbes Büchern wieder erkennst?“ Anstelle Stingls antwortet – wie üblich – C. C. Cohn an Dubbe: „Wer ist Cohn? Wer bin ich“, schrieb er mir [Dubbe]. „Cohn ist eine Erfindung von dir, die du mit Schnipseln aus meiner Vita beziehungsweise mit aus dem Zusammenhang gerissenen Aussprüchen von mir neu zusammengesetzt.“ (DD, Salon-Faschist) Das nehme ich ihm nicht ab. Der Agent Provocateur hat sicher erkannt, dass er mit der vornamenslosen Figur C. C. Cohn konstant sein Publikum über Dubbes Bücher erreichte. Ohne dass er mit wem auch immer Kompromisse eingehen musste. In the very end sandte Kiev Stingl ein letztes Signal seiner poésie pure an seinen compañero Daniel:
„Ich dürste nach
dtille
hhör ddauerrfd mmeinenn
fd atem„
An einem Sommerabend las Daniel Dubbe in Hamburg unter dem Motto „Der Sommer ist längst vorbei“ literarische Erinnerungen an einen Rock-Poeten. Melina Savvidou (7:42) und Axel Schäffler (39:50) haben Impressionen der Lesung festgehalten. Beiden herzlichen Dank dafür.
Die Stingl/C. C. Cohn-Zitate sind aus folgenden Büchern von Daniel Dubbe: Wilde Männer, wenig Frauen, 1984, Verlag Pohl’n’Mayer; Bessere Tage, Verlag Kurt Pohl, 1995; Hart auf hart, Verlag Kurt Pohl, 2002; Jungfernstieg, MaroVerlag, 2009; Underground, MaroVerlag, 2011; Jugendfreunde, Günther Emigs Literaturbetrieb , 2023.
Für fünf Sammler und Fans gibt es ein tolles Angebot: Flacker in der Pfote von Kiev Stingl (Erstausgabe 1979) und drei Bücher von Daniel Dubbe (Wilde Männer, wenig Frauen; Bessere Tage, 1995; Hart auf hart, 2002). € 48.–, bitte PN an mich.