Warum ich den Fotoband ISCHGL jetzt doch gut finde.

Ist das Buch ein Corona-Fake?

ISCHGL ist kein Corona-Buch. Aber einer Volltreffer. Denn gerade, als uns der Schrecken auf dem Höhepunkt des COVID 19-bedingten lock downs in Glieder und Sportmuskulatur fuhr, erschien der Fotoband ISCHGL des Südtiroler Fotografen Lois Hechenblaikner. Quasi als visuelles Dokument, dass uns den Corona-Hotspot Ischgl mit seinen europaweit transportierenden Superspreader erklären soll. Auch die Berichterstattung über den Bildband verbreitete sich mit einem R-Wert von 10,0 in allen klassischen und digitalen Medien, samt seiner spekulativen Nebenwirkungen und Interpretationen. Und deswegen mochte ich das Buch im Frühjahr nicht. Dem Verlag war der Rummel samt Verkaufserfolg ausnahmsweise zu gönnen, schließlich befürchtete die Buchbranche im Frühjahr den Totalabsturz für 2020. Da das Fotomaterial bereits vorlag, konnte schnell auf den Corona-Zug aufgesprungen werden.

Tourismuskritik mit vielen peinlichen  Fotos.

Das Buch ist kein Buch über den Corona-Ausbruch in Ischgl, kein Lokalaugenschein in der Après Skibar Kitzloch, kein Protokoll über Augen zu drückende Politiker und Manager und kein Tagebuch über verzögerte und chaotische lock down-  und go home-Massnahmen.  Hechenblaikner dokumentiert schon seit fast einem Vierteljahrhundert den Wildwuchs eines ungebremsten, alpenländische Natur- und Lebensräume ignorierenden Tourismus. Wie schon in seinen beiden Fotobänden Winter Wonderland und Hinter den Bergen zeigt er die Schäden an der Umwelt. Seine Mission geht weit über Ischgl und COVID 19 hinaus. Lois Hechenblaikner hält nicht nur das grelle und ungebremste Geschehen auf Gaudihütten, Sonnenterrassen und Après Ski Bars fest, sondern zeigt ausreichend Blicke hinter die Kulissen der Spass-Maschinerie. Alkohol und Geld haben eine identische Fließgeschwindigkeit.

(c) Lois Hechenblaikner

Viele der smarten Hedonisten im Skianzug – meist männlich, Mitte 40, erfolgsverwöhnt, strömen aus ganz Europa nach Ischgl und lieben das sportliche Ambiente samt Verlust der Selbstkontrolle mittels Alkohol und Gruppendynamik. Auch im größten Chaos hält Hechenblaikner seine Kamera ruhig und gezielt auf die Szenerie – den Abgelichteten scheint die Kamera nicht zu stören. Im Gegenteil, sie scheint sie noch aufzustacheln. Dadurch wirken die Fotos leicht inszeniert. Das fiel mir schon bei seinem Buch Volksmusik auf. Lois Hechenblaikner erkennt beim Abdrücken immer den ärgsten Augenblick.  Und dennoch hinterlassen die Bilder beim Betrachter das Gefühl, Unfallvideos von Handynutzern zu betrachten: irgendwie gruselig interessant, inklusive Kopfschütteln. Ischgl scheint ein Ort ohne Regeln geworden zu sein.

Warum ich ISCHGL jetzt doch gut finde.

Ischgl plant natürlich längst die nächste Wintersaison: pro Woche die Gäste dürfen einen kostenlosen Schnelltest machen – notfalls auch täglich, ebenso das Personal. Après Skizirkus nach alter Art soll es nicht mehr geben, Tagesbusse sind verpönt (aber wahrscheinlich da), gar Sperrstunden sind im Gespräch – schau‘mer mal.  Denn, Obacht, „die DNA der Marke Ischgl soll nicht verändert werden.“ Wir haben es geahnt.

Vielleicht helfen Lois Hechenblaikners Fotos, dass der eine oder andere Skifahrer unter uns, naturfressenden Gigantismus wie in Ischgl meidet und wir auch mit weniger Superlativen glücklich werden. Alpintourismus hat nur Zukunft, wenn es gesamtgesellschaftliche Regeln und vor allem Limits für den Verbrauch von Natur und Energie dafür gibt. Erfreuen wir uns bei seinen Fotos aber auch als kleine Voyeure an den ungezügelten Peinlichkeiten der anderen: nein, so sind wir nicht und da wollen wir auch nicht Urlaub machen. Das Buch kommt mit ins Sportgepäck, denn es bietet genügend Gesprächsstoff beim Chillen nach einem herrlichen Powder-Tag.

Lois Hechenblaikner ISCHGL, 250 S., € 34

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(c) 2020 Kurt Pohl

Foto Buchcover (c) Lois Hechenblaikner, Steidl Verlag

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