Kategorie: Lebensart | Lifestyle

Buchmesse ’21: vom Warten auf die Currywurst und auf irgendeine Normalität.

Deutlich weniger Aussteller, COVID-bedingt limitierte Besucherzahlen, zaghafte Buchhändler und die einzige Warteschlange an der Currywurst Bude. Bei meinem Messerundgang am letzten Donnerstag wurde ich das Gefühl nicht los, dass die deutschen Publikumsverlage kneifen. Mutlos und nicht mal mit halber Kraft vertreten. Immerhin sind Kinderbuch-Verlage gut präsent. Sie arbeiten an der Zukunft des Buchmarkts, einige Belletristik-Verlage arbeiten in Frankfurt nicht einmal an der Gegenwart des Buchs. Es gibt (zu) viele Stände mit non books und wir entdecken wasserfeste Bücher für die Badewanne. Immerhin.

Back to Fränkfurt

Messechef Jürgen Boos markierte bei der Eröffnung: „Back to business, aber (noch) nicht back to normal“. Hat er uns verschwiegen, dass Normalität ein äusserst dynamischer Begriff ist? Natürlich lassen sich die spärlich besuchten Hallen mit der noch nicht überwundenen Pandemie erklären. Zum Planungszeitraum gab es noch weltweite lock downs, Impfanläufe, rechtliche Unsicherheiten und bis heute unterschiedliche internationale Reiseeinschränkungen. Dennoch vermisse ich bei den D/A/CH-Verlagen die Kreativität, mit dieser wagen Situation bei der Planung umzugehen. Frankfurt ist eine Standardübung für sie. Ich ringe um Luft: Messehallenluft ist an sich schon eine Herausforderung an die Atemwege, mit FFP2 wird’s nach Stunden zur Qual – so gut und sinnvoll ich die Maske finde! Eva Menasse trägt sie immerhin mit Verve. Diese Messe zeigt dramatisch, wie notwendig eine Neupositionierung der Messe ist.

Kanada macht Mut zur Literatur

Das Gastland Kanada hat diese Pandemie wirklich nicht verdient – zu schön und poetisch ist sein Pavillon: mit Kaskaden und Wellen von Wasser und Wäldern. Die Begegnungen mit kanadischen Autoren findet live und mit virtuellen 3D-Sequenzen statt. Mutig, beeindruckend und zu schade, um wieder abgebaut zu werden.

Afghanistan trägt Trauer, Russland macht auf Disko

Aausländische Verlage mit Gemeinschaftsständen sind immerhin gut vertreten: Litauen und Estland mit pfiffig eleganten Messeständen, Afghanistan trägt Trauer mit einem leeren Messestand ohne Bücher. Nur die Russen lasse ich links liegen: sie vermiesen uns für den Winter unsere Gasrechnung. . . der Stand sieht aus wie eine Berliner Russendisko der Nuller Jahre.

Klassische high quality Verlage wie Schirmer und Mosel und gestalten finde ich nur zufällig in der internationalen Halle, abseits in kleinen Kojen, als „workstations“ gebranded. Ein paar Bücher schmöker-abwehrend an der Rückwand verstaut, davor auf 5 m² ein nackter Tisch mit Stühlen. Hier wird nicht gelesen, hier wird business gemacht. Lothar Schirmer, einer der markantesten Verleger und Verlage, unterhält bei dieser Messe nicht wie bisher launig und dauersitzend in Mitten der großen Kunstbuch-Halle seine Gäste. Und bei gestalten freue ich mich auf die Neuerscheinung „What a wedding!“, über die ich in den nächsten Wochen posten möchte – leider nicht dabei gesteht die freundliche Mitarbeiterin. . . Der mit seinen Verlagsvertretungen umtriebige Mario Max meint lakonisch, „man müsse sich am Abend die Messe schön trinken“ – eigentlich müsste schon mittags damit anfangen.

Eigentlich wollte ich „meine“ Verlage für culture books besuchen: Kunst, Fotografie, Reisen und Lifestyle von gestalten, Hatje Cantz, Kehrer, Reprodukt, avant, Knesebeck und andere. Für eine Preview über Neuerscheinungen Herbst/Winter und damit eine quick and dirty-Vorschau auf meine trooboox-posts der nächsten Monate. Schnelle Fotos, flotte Kurzkritiken. Aber fast keine Verlage da.

Buchmesse, Verleger, Handel und Medien müssen hybride Ideen für einen neuen Marktplatz entwickeln. Ausser mit Leipzig ist – auch digital – noch kein Event vorhanden, der sich kommunikativer Stärke nur annähernd mit der „alten“ Buchmesse messen kann. Einen Buchtitel für diese neue Messe hätten wir schon: vom Suchen und Finden der neuen Normalität.

(c) Kurt Pohl 2021

Alles, was unser Leben sprizziger macht: The Monocle Book of Italy.

 

Das Team des Monocle-Magazins gestaltet sein Book of Italy wie eine Fahrt im high-speed Zug Frecciarossa durch Italiens Kultur, Kulinarik und Lifestyles. Mein persönliches Italien ist nicht so üppig wie das Buch: die Schallplatten von Lucio Battisti, ein klassisches Rennrad von Tommasini, Pasta von kleineren Manufakturen.und vor allem die Bialetti-Moka – gezeichnet von hunderten Espresso-Einsätzen auf unserem Wiener Gasherd.

Halb verfaulter Hai oder lieber Zuppa di pesce?     

Gleich auf den ersten Seiten stellt Monocle-Chef Tyler Brûlé die Killer-Frage: Wenn wir für den Rest unseres Lebens nur noch eine Landesküche hätten, welche wär’s? Island fällt in dieser Frage schon mal aus dem Rennen: wer will  schon sein Leben lang vergorenen und für Monate in der Erde vergrabenen Hai namens Hákarl auf dem Teller? Also lieber Essen vom Italiener – und das am besten in Italien. Ein Fazit gleich zu Beginn: The Monocle Book of Italy zeigt, dass kein anderes Land unsere Alltags-Träume vom guten und schönen Leben erfüllt wie eben Italien.

Zur richtigen Zeit die Uhr anhalten

Die Herausgeber Chiara Rimella und Joe Pickard  unternehmen mit The Monocle Book of Italy eine Rundreise durch alle Lifestyles. Auf ihrer Grand Tour durch den Stiefel reisen sie durch die Vielfalt der Regionen und geben ein look and feel der wichtigsten Metropolen von Bozen bis Palermo. Das Kapitel Design belegt, dass Minimalismus keine Italienische Strömung ist. Alle Design-Ikonen, die wir täglich zuhause und im Büro nutzen, haben neben der Funktion immer auch etwas spielerisches in Form und Farbe. Italienisches Design zielt auf ein Lächeln bei der Nutzung. Übrigens: der Schnellzug Frecciarossa wurde im Turiner Studio Bertone designt – auch verantwortlich für die legendäre Guilietta von Alfa Romeo. Und flux geht’s zum Kapitel Mobilität: Boote der Marke Riva und sportive Autos machen uns neidisch, die Dauerbrenner von Vespa bis zum Lasten-Dreirad Ape – dem Klassiker in vielen Schwarzweiss-Filmen. Nur Alitalia ist inzwischen Geschichte. Ich erinnere mich gerne an die Reise von Bari nach Venezia, stundenlang zieht die Adria am Fenster des Schnellzugs vorbei.

Das Geheimnis der Italiener*innen liegt darin, im richtigen Zeitpunkt die Uhr anzuhalten: ein Zwischenstopp auf der Piazza, am Strand zwischen bunten Sonnenschirmen und immer Zeit für einen caffè al banco im Stehen.

Mode-Start-ups in der Provinz sind alles andere als provinziell!

Wie immer hat das Monocle-Team hat ein gutes Gefühl dafür, die richtigen Menschen aufzuspüren, an längst bekannten Orten neues zu entdecken und Stimmungen zu vermitteln. Beispielsweise ein Besuch bei Gabriele Gmeiner, Schuhmacherin in Venedig. Bei ihr wartet man gerne zwölf Monate auf ein Paar handgefertigte Massschuhe. Und abseits der Metropolen entdeckt Monocle unabhängige Modelabels wie Zoe (Bassano del Grappa) und Sugar (Arezzo). Spannend ist auch die Übersicht, wie sehr italienische Markenprodukte unseren tristen Alltag erhellen: von Alessi über Nutella bis zur Vespa. Gut, wichtig und schön. Immer erfinden Italiener*innen Sachen, die unser Leben angenehmer und sprizziger machen. Das gilt besonders für das Kapitel Hospitality/Gastfreundschaft mit vielen Highlights der italienischen Küche. Wenn Lesen satt machen könnte. . . Zusätzlich gibt es Tipps für essentials im Vorratsschrank für graue Wochenenden. Rechtzeitig die Regale auffüllen. Das Book of Italy ist vor allem ein Bilderbuch über das angenehme Leben, die ergänzenden – englischen – Texte haben meist Cappuccino- oder maximal Aperol-Länge.

Die Texte haben Cappuccino-Länge

In der B-Note bekommt das Buch minimale Abzüge: es beantwortet nicht die Fragen, warum Korruption jährlich Milliarden Schäden anrichtet oder wie es sein kann, dass die italienische Nation seit 1946 sechsundsechzig Regierungen verschlissen hat. Gut, das sind Fragen, die man seinem coffeetable üblicherweise nicht stellt. Dafür punktet das sehr abwechslungsreich gestaltete The Monocle Book of Italy bei unseren Erwartungen an italienisches Leben: fare una bella figura. Gerade, wenn es bei uns kalt und nebelig ist.

Chiara Rimella, Joe Pickard (Hrsg.): The Monocle Book of Italy, 294 Seiten, € 65 | in deiner Lieblings-Buchhandlung oder hier.

(c) Kurt Pohl 2021

Ein Handbuch für nette Menschen – und solche, die es werden wollen

Selbstversuch mit Hund |

Mit dem Versprechen für ein entspanntes und harmonisches Leben schraubt The Monocle Book of Gentle Living die Erwartungen bei Leser*innen von Anfang an richtig hoch. Noch bevor die erste Seite aufgeschlagen ist, stellt sich die Frage, wo stehen wir eigentlich? Irgendwie ist unser Leben immer ein wenig in Schieflage: zu viel Chef, zu viele messages,  zu viele Weggabelungen und zu wenig Bewegung, Geld, echte Freundschaften und Zeit für uns selbst. Und damit wagen wir uns in ein neues Jahrzehnt? Sind wir von 2020 nicht gebeutelt genug? Gentle Living durchforstet unsere Lebensbereiche und hebt Ressourcen für ein zufriedenes und  behutsames Leben. Kann das klappen? Wir lesen genau nach und machen außerdem einen ersten Selbstversuch mit Hund.

50 freundliche Tipps für ein entspanntes Leben

Ein Dilemma: unsere digitalen Möglichkeiten nutzen viel und schränken gleichzeitig Freiheiten ein. Wir sind hervorragend connected und trotzdem auf der Suche nach dem Echten. Wie legt nun das global vernetzte Monocle-Team seinen Ratgeber an? Mit positiver Grundhaltung. Schon die Einstimmung mit einem Manifest aus fünfzig sympathischen Ideen macht Laune. Meist nicht schwer umzusetzen, leicht und lakonisch formuliert und mit herrlichen Retro-Illustrationen. Als Leser*in schaffst du dir hier schon deine Bewertungskriterien für die gesammelten Gentle Living-Anregungen: A) mach ich schon, B) wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen? C) Aha! D) Naja. . .

Ein analoger Streifzug durch das Buch:

  • Wichtiger Rat für alle Spezialisten: sei nicht nur fit in deinem Beruf, sondern nimm dir Zeit und wage eine zusätzliche Parallel-Aufgabe.
  • Der Wohlfühl-Klassiker „besser Essen“ bietet nicht nur mit Vergnügen kochen, sondern auch bewusst, v. a. regional einkaufen und in Gemeinschaft genießen. Dazu gehört, regelmäßig neues auf dem Tisch und bei der Gästeliste auszuprobieren.
  • Tauch mal unter, nimm nicht immer den schnellsten Weg und entdecke kleinere Metropolen. Leg den Schalter um und trau dich, offline zu sein.
  • Auch dieser Ratgeber kommt nicht ohne die üblichen Tipps aus für nachhaltiges Einkaufen (da ist der Manufaktum-Katalog informativer!), schöner Wohnen (nicht billig) und Erfolgsstories von globalen Aus- und Umsteigern. Macht nichts, wie in jedem Buch darfst du Seiten überblättern.
  • Im Essay-Teil geht es neben Beruf, Freizeit und das Leben in der Stadt immer wieder um die spannende Ausgewogenheit von digitaler und analoger Welt: Mitautor Andrew Mueller warnt vor der trügerischen Quantität unserer digitalen Botschaften – viel heißt selten auch wichtig. Auf den interessanten Vorschlag von Herausgeber Josh Fehnert, statt dicker Wälzer wieder mehr short reads wie Stories und Novellen zu lesen, gehe ich bei nächster Gelegenheit näher ein. Interessant auch der Aspekt, dass das neue Jahrzehnt Städte braucht, die ebenfalls durch positives Denken geprägt sind. Warum also nicht zusätzliche „Erlaubnisschilder“ statt nur Verbote, z.B. „auf der Wiese sitzen erlaubt“. . .  Dazu wesentlich mehr Grün, Wasser und Bewegungsmöglichkeiten.

Schluss mit Multitasking

Das Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt. Nicht nur wegen unserer 2020-Erfahrungen. Vor allem aber wegen der beiden letzten Dekaden: Internetblase, Finanz- und Klimakrise, digitalem Fortschritt samt den gesammelten Folgen und Veränderungen. Da blieb einiges an Ausgewogenheit auf der Strecke: zwischen Pflicht und Muße (wer hat ein moderneres Wort dafür?!), zwischen global und local, zwischen digital und analog. Charmant animiert und ermutig uns Gentle Living zu Lebenskorrekturen. Es gibt noch ein Leben hinter dem Bildschirm. Es braucht nicht viel, um es zu entdecken: eine positiver Einstellung, den Willen anzufangen und für einige Maßnahmen ein bisschen übriges Geld. Die Monocle-Welt ist interessant, gelassen und stylish, aber immer auch ein bisschen abgehoben. Und so ganz nebenbei zeigt uns Gentle Living wie lebendig Print ist. Print entspannt und ist eine wirksame Medizin gegen Multitasking. Wir schmökern durch ein sehr schön gemachtes und abwechslungsreiches Buch. Fine reads.

Gönn dir immer den Fensterplatz

Das Monocle-Buch ist ein esoterikfreies Kompendium für eine zufriedene Dekade mit klaren Botschaften. Ohne versteckte Qualen und Entsagungen. Ganz wenige Ratschläge sind inhaltlich banal, die meisten sind überraschend anregend und alles zusammen liest sich amüsant und unterhaltsam. Wir werden unsere Zeit besser nutzen, Multitasking den Kampf ansagen und die Herrschaft über unser smart phone samt message control zurückgewinnen. Und die Sache mit dem Hund? Gentle Living Tipp Nr. 3 lautet „Get a dog“. Seit dem Sommer begleitet uns die quirlige Mischlingshündin Gina. Sie kann zwar kein smartphone bedienen, aber weiß, wo wir Grissini bunkern und wie man die Schlafzimmertür öffnet. Außerdem kennt sie 101 überaus erholsame Schlafpositionen. Get a dog – denn ein Hund macht Leben und Arbeiten menschlicher. Wie wahr. Mit und ohne Hund hat der Monocle Guide ein Geheimrezept für ein entspanntes Leben: sei freundlich zu dir selbst – dann bist du’s auch zu anderen.

Tyler Brûlé, Josh Fehnert (Hrsg.), The Monocle Book of Gentle Living, Thames & Hudson Ltd., 242 S., ca € 35 | in deiner Lieblingsbuchhandlung oder hier.

(c) Kurt Pohl 2020