Wenn keine 2000 Schritte entfernt die Welt-Uraufführung eines Stückes von Haruki Murakami stattfindet, ist es höchste Zeit, meinen Schreibplatz zu verlassen. Das Wiener Odeon-Theater setzt überaus stimmig die Erzählung „Die unheimliche Bibliothek“ um.
Es ist Murakamis Spezialität, Alltagsgeschichten mysteriöse und abenteuerliche Wendungen zu verpassen: in der dramatisch bearbeiteten Erzählung führt die harmlose Rückgabe von Leihbüchern zur Entführung durch einen cholerischen Bibliothekar in ein Kellerlabyrinth. Er zwingt den Jungen mit den neuen Lederschuhen zur Lektüre unsinniger Sachbücher. Um ihn bei der Arbeit zu halten, lässt er ihn von einem gütigen Mann mit Schafskopf anketten und von einer stummen Schönen mit köstlichen Speisen verwöhnen. Schließlich will er ja nach erfolgreicher Lektüre das Gehirn des Jungen verspeisen, um sein Wissen zu vermehren. Somit wird es nicht nur eine Geschichte von Dunkelheit und Verlust, sondern auch von Hoffnung und Liebe. Alltag eben.
Das Leben ist ein Labyrinth mit ungewissem Ausgang
Regisseurin Jacqueline Kornmüller hat die von Ursula Gräfe übertragene Erzählung für die Bühne umgesetzt und sich dabei auch an die Stimmung der von der Babylon Berlin-erfahrenen Illustratorin Kat Menschig bebilderten Buchausgabe von 2013 angelehnt. Wie in einer graphic novel mit vielen Grautönen bewegen sich die Schauspieler von Bild zu Bild. Das beeindruckende Bühnenbild ist ein Labyrinth aus gewichtigen Büchern und dient als Leseraum, Leihbibliothek, als Kellerfluchten mit geheimnisvollen Türen, als Verlies und überraschender Tanzboden. In diesem Büchermeer trägt uns das begeisternde Ensemble trotz düsterer Dramatik mit sanften Wellen durch die Geschichte. Ebenso nimmt uns die meist minimal gehaltene Musik an der Hand. Einer der Musiker ist gleichzeitig der Ich –Erzähler, der die Handlung im Rückblick („Es war einmal“) vorwärts treibt. Da stört auch die überraschende Tanzeinlage des Gefangenen in die mediterrane Leichtigkeit mit einem Paolo Conte-Klassiker nur Japan-Puristen – kurzzeitig eine wilde Mischung, aber Wien ist nun mal die Hauptstadt der Melange.
„Das Blöde an einem Labyrinth ist, dass man erst am Ende weiß, ob der Weg, für den man sich entschieden hat, richtig oder falsch war“ sagt Murakami. Klingt nach einem finalen Lebensmotto. Aber notfalls gibt es auf der letzten Buchseite noch eine überraschende Wendung (dann eben ohne neue Lederschuhe).
Ein wunderbar illustriertes Buch und ein fein inszeniertes Theaterstück: beides macht Murakami einmal mehr zum Literatur-Nobelpreisträger der Herzen und Buchhändler.
Haruki Murakami: Das unheimliche Labyrinth ❶ Buch ❷ Theater
Hurra, es gibt neue Termine: 19., 20., 21., 28., 29. Januar 2023
2., 3. Februar 2023