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Leben „to go“: die besten Fotos liegen auf der Straße.

Bis 16.Februar sind die besten Straßenfotografien im Kunst Haus Wien versammelt. Keine Zeit für die Ausstellung? Nicht weiter schlimm!  Das Buch zur Ausstellung Street.Life.Photography bleibt und zeigt neben Stars des Genres wie Martin Parr, Robert Frank, Lee Friedlander und Diane Arbus auch jüngere Fachkräfte wie der Deutsche Siegfried Hansen und Maciej Dakowicz, der v.a. in Asien arbeitet.

Straßenfotografie ist das Road Movie unter den Fotografie-Genres und hat ihren besonderen Reiz: kein Studio, knappes Budget, kein oder wenig künstliches Licht, keine Zeit für langwierige Inszenierung, stattdessen Konzentration auf den Augenblick und auf Zufälle. Das Studio ist der öffentliche Raum. Oft entstehen darin subjektive Schnellschüsse von Alltagsszenen und eindrucksvolle Porträts.  Das Buch mit knapp 200 schwarz-weiss- und Farbfotos aus den letzten 70 Jahren gliedert die Fotografien in Sektionen wie Public Transport, Street Life, Urban Space, Anonymity und andere.  Sie zeigen Strassenszenen, die all unsere  Lebenslagen abbilden:  Eitelkeit, Bewegung, Essen, Sex, Stillstand, Sport und Spiel, Warten, Architektur, Politik, Frust, Einsamkeit und auch Langeweile. Auf dieser Bühne sind wir gleichzeitig Zuschauer und Akteure, oft unfreiwillig, manchmal voyeuristisch.

(c) Siegfried Hansen

Einiges im Buch erinnert an Szenen, die wir so oder ähnlich selbst schon erlebt, aber nicht wahrgenommen haben. Zufälle, die wie eine Inszenierung wirken. Es ist nicht ganz billig, dafür schön gemacht und mit einer umfassenden Auswahl. Darin schmökern deine Gäste bis der Risotto fertig ist. Lass dir ruhig Zeit mit der Zubereitung. Den richtigen sound dazu liefert immer noch Randy Crawford.

Street. Life. Photography,  € 49,90 | [Anzeige] in deiner Buchhandlung oder bei oder hier.

William Turner – mach aus einem Alten Meister einen jungen.

Cees Nooteboom führt uns durch eine überraschende Ausstellung im Buch.

Wenn ich mir den Maler J. M. William Turner vorstelle, sehe ich eine düstere Seeschlacht an der Wand, davor schwere Ledersessel in einem englischen Adelsclub. Eher dekorativ. In seinem Biopic Meister des Lichts hastet ein exzentrischer Gnom mit Mal-Utensilien durch eine Musical-Kulisse, die das London Anfang des 19. Jahrhunderts darstellt. Eher skurril.

Noch bis Mitte Oktober ist im Kunstmuseum Luzern eine Ausstellung mit dem Titel Das Meer und die Alpen zu sehen. Unter dem gleichen Titel ist ein umfassender Begleitband erschienen. Das Buch bringt nicht nur die Exponate in unser Umfeld, sondern enthält neben den unvermeidlichen Grussworten auch Informatives zu Turner und seinen Reisen. Joseph Mailord William Turner (1775 – 1851) war der bedeutendste Vertreter der britischen Romantik. Neben seinen populären Gemälden schuf er auch eine Unzahl von Aquarellen und Zeichnungen. Seinen Durchbruch erreichte Turner mit meist düsteren und dramatischen Meeresbildern. In seinem Spätwerk reduzierte Turner seine Naturopulenz und wurde damit zu einem Vorläufer der Impressionisten. Anfang des 19. Jahrhunderts nutzte Turner die politische Entspannung durch Friedensverträge in Europa zu ausgedehnten Motiv-Reisen. Er war ausgesprochen gern unterwegs, mit Pferdekutschen und Schiffen.

Cees Nooteboom führt uns durch das Buch

Kunstbücher werden leicht zu Leichen im Regal, wenn sie nur eine statische Abfolge ausgestellter Werke bieten. In diesem Fall ist es Cees Nooteboom in seinem Essay zu verdanken, einige Turner-Bilder aus besonderer Perspektive zu betrachten. Nooteboom macht dabei den Wandel Tuners von Düsternis zum schemenhaft Leichten deutlich: „Ich betrachte noch einmal [das Bild] Strand und Segelboot. Da ist er siebzig. Was ist darauf zu sehen? Fast nichts. Wie lange dauert es, bis es einem gelingt, fast nichts zu malen?“ Die Übersetzung von Nootebooms Text ist holprig, der Reiz seiner Sprache geht in weiten Strecken leider verloren. Aber er lenkt unseren Blick auf überraschende, wenig bekannte Bilder.

Turner war Schweiz-Fan

Ergänzend findet sich im Buch auch eine Karte mit Tuners Reisewegen durch die Schweiz. Zwischen 1802 und 1844 war er sechsmal in der Schweiz unterwegs. Interessant wäre die Antwort auf die Frage, warum er der Schweiz vor Frankreich den Vorzug gab. Was suchte er so intensiv, nahm die Mühen der Reisen auf sich? Sicher faszinierte ihn die Erhabenheit der Alpen, die Blick und Bewegungsfreiheit begrenzten. Nicht wie die Unendlichkeit des Meeres. Aber wie das Meer bieten die Berge Licht- und Wetterphänomene, die seine Kreativität forderten. Dazu passt der sehr informative Beitrag über den Einfluss der jeweiligen Wettersituation auf die in der Schweiz entstandenen Bilder Turners. Die schnellen, oft dramatischen Wetterwechsel und der imposante, nahtlose Übergang von Himmel und Erde müssen ihn fasziniert haben.

Wer immer wieder neue Bilder entdecken möchte, lässt am besten das Buch eine Zeit lang mit wechselnden Seiten aufgeschlagen liegen. Der Band enthält Beispiele aus allen Perioden, bietet einen guten Überblick über sein Werk. Aus den Gegensätzen von Meer und Alpen entsteht ein ganz eigener Reiz. Mir persönlich gefallen seine in Rot- und Brauntönen gehaltenen Radierungen und Aquarelle am besten. Sie wirken wie story boards von mysteriösen graphic novels und erzählen sich selbst weiter. Ziemlich aktuell also, der Junge Meister Tuner.

Hrsg. Kunstmuseum Luzern, Turner – Das Meer und die Alpen | € 34,90

Hirmer Verlag

Neugierig machen auch die gleichzeitig erschienen Skizzenbücher:

David Blayney Brown: J.M.W. Turner – Wolken. Das Skizzenbuch Skies

Hrsg. David Blayney Brown: J.M.W. Turner – Luzerner Skizzenbuch

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Ein packender Roman über die tödlichste Grenze der Welt: das Mittelmeer.

„Crew love is true love“. Die Kapitänin eines Rettungsschiffes schreibt eine packende Autofiktion über Hilfseinsätze für Flüchtlinge.

Den Rahmen des Romans steckt die realpolitische Wirklichkeit: einem schamlosen italienischen Innen-Ministerium steht eine rat- und willenlose europäische Staatengemeinschaft gegenüber. Dafür übernehmen private Rettungsmissionen die Aufgabe, die Grundlagen unserer Zivilisation und der Menschenrechte einzuhalten. Im Chaos zwischen windigen Schlepperbooten und technisch hochgerüsteten Marinekreuzern versuchen die Aktivisten möglichst viele Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten.

Die studierte Biologin Pia Klemp  (*1983) ist Kapitänin bei der zivilen Seenotrettung Sea Watch im Mittelmeer und Aktivistin für Menschen- und Tierrechte. Nach Beschlagnahme ihres Schiffes ermittelt derzeit die italienische Staatsanwaltschaft gegen Klemp wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“.

Das Drama vor unseren Augen

Wer hilft selbstlos Flüchtenden und Ertrinkenden unter grenzwertigen Bedingungen? Ein wilder Haufen aus AussteigerInnen, KämpferInnen für eine gerechte Welt und Abenteuerlustigen.  Dabei führt die Kapitänin die Mannschaft auf ihre eigene Art: „Manchmal muss ich von den Leuten wegbleiben, um sie zu mögen.“ Crew und Gäste (Schiffsjargon für die Geretteten) hält die Kapitänin unter den schwierigsten Bedingungen zusammen. Nicht genug, denn die Arbeit der AktivistInnen wird an Land und von der Politik zunehmend kriminalisiert.

C2018 sind mehr als 2200 Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Vor unserer Haustüre, wie man so nett sagt. Wir konsumieren diesen Stoff allabendlich in den Nachrichten. Und wieder einmal kann literarische Fiktion die Realität nicht absurder abbilden. Klemp schildert einen Rettungseinsatz, bei dem ein Schlauchboot von der lybischen Küstenwache brachial gerammt und an der Weiterfahrt gehindert wird. Die Marineboote und Hubschrauber der EU bleiben inaktive Beobachter. Das ist der deal vor dieser Haustüre. Flüchtlinge ertrinken bei diesem chaotischen Zusammentreffen, andere werden von der crew gerettet und finden aber keinen Hafen, der sie aufnimmt. Das Rettungsschiff wird beschlagnahmt.

In diesen dramatischen Schilderungen hat der Roman seine ganz starken Momente. Auf hoher See im Kampf gegen politische Unmenschlichkeit fühlt sich die Autorin sicher. Genauso, wie sie ihr Rettungsschiff millimetergenau an die Pier setzt. Die Landgänge in ihrer Heimat nutzt die Kapitänin für ihr Engagement für Veganismus, zersägt Hochsitze der Jäger. Für die story eher ein Kampf zu viel.

Ein beherzter Roman

Bei allen menschlichen Dramen hat der Roman auch irrwitzige Passagen. Wenn der Umstand einer weiblichen Kapitänin die italienischen Sicherheitsbehörden verwirrt und verunsichert. Ihre Anrede mit Madam lässt Klemp nicht gelten, sie besteht auf den korrekten Titel Capitana. Sollen die Beamten sich doch endlich damit abfinden, dass ihnen ein Gegenüber auf Augenhöhe unsere Zivilisation samt Menschenrechte erklärt.

Pia Klemp handelt und schreibt beherzt. Es fühlt sich an, als kompensiere die Autorin ihren Knochenjob mit Anleihen an die derbe Sprache Charles Bukowskis und an die Lakonie eines Jörg Fauser. Würde passen, weil Klemp mit schnoddriger Anarchie,  beeindruckend und bedrückend zugleich, den Totentanz im Mittelmeer beschreibt. Und wie in B. Travens Totenschiff suchen Passagiere ohne gültige Papiere einen Hafen.

Die Zeit bis Prozessbeginn in Italien verkürzt sich Pia Klemp mit stupiden Talkshow-Fragen, dem Ablehnen fadenscheiniger Ehrungen wie der Pariser Verdienstmedaille und der Vorstellung ihres Buches. Mit einem möglichen Ministerpräsidenten in Badehose droht der Rettung Ertrinkender und unserer Zivilgesellschaft allerdings ein weiteres Italien-Tief.

Pia Klemp,Lass uns mit den Toten tanzen“, € 20 | in deiner Lieblingsbuchhandlung

https://www.maroverlag.de/381_pia-klemp